Modellversuch fördert Fähigkeiten von Inhaftierten

Ein Gefängniseintritt ist ein einschneidendes Erlebnis. Um den schädlichen Auswirkungen der Untersuchungshaft entgegenzuwirken, läuft in den Kantonen Bern und Zürich zurzeit ein Modellversuch, der stark auf die Fähigkeiten und Kompetenzen der Inhaftierten setzt.

Seit Oktober 2023 werden Massnahmen erprobt

Es hallt in den Ohren nach: Das Geräusch der Zellentür, die schwer zukracht. «Wieso nur bin ich hier, was mach ich bloss in Untersuchungshaft?» Möglicherweise sind das die ersten von vielen Fragen, die sich jemand stellt, der abrupt aus dem Alltag gerissen wird. Ob zurecht oder nicht, wird sich erst zeigen. Die Strafverfolgungsbehörde will mit der Anordnung von der Untersuchungshaft verhindern, dass die verdächtigte Person flieht, erneut straffällig wird, sich mit anderen Beteiligten abspricht oder Beweismittel manipuliert.

Der Eintritt in die Untersuchungshaft ist ein einschneidendes Ereignis. Was kommen wird, ist ungewiss, was bleiben wird, ebenso. Inhaftierte realisieren in diesem Moment, dass sie jegliche Handlungsfreiheit verloren haben. Es droht ein Haftschock. Und sie reagieren in dieser Situation ganz unterschiedlich: mit Panikattacken und Angststörungen, Schwindel oder anderen körperlichen Symptomen bis hin zu Psychosen und Suizidversuchen.

Ein Inhaftierter telefoniert per Video.
Mit Prison Stress Management (PRISMA) gehen die Untersuchungsgefängnisse neue Wege. Dank Videotelefonie erhalten die Inhaftierten ortsunabhängig und in neun Sprachen Anleitungen, wie sie Stress und Probleme besser bewältigen können. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

In Untersuchungshaft gilt für alle die Unschuldsvermutung und dennoch ist es die strengste Haftform. Die restriktiven Bedingungen sind für die Ermittlungen und für die Sicherheit oft unerlässlich. Doch sind sie für schädliche Auswirkungen der Haft verantwortlich. Und solche Schäden müssen dann später im Strafvollzug, durch die Bewährungshilfe oder in Freiheit mühselig wieder behoben werden.

Seit Oktober 2023 werden in elf Untersuchungsgefängnissen der Kantone Bern und Zürich Massnahmen erprobt, die einen psychischen oder materiellen Schaden bei den Inhaftierten verhindern sollen. Der mehrjährige Modellversuch «Ressourcenorientierte Betreuung und Sozialarbeit in der Untersuchungshaft» wird vom Bundesamt für Justiz finanziell unterstützt und ist bis ins Jahr 2027 genehmigt. 

Mensch füllt einen Fragebogen aus.
Die Stressampel ist ein bewährtes Mittel zur Stressreduktion. Sie fördert die Fähigkeiten der Inhaftierten zur Stressbewältigung. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Ressourcen erhalten

Der Erhalt der Fähigkeiten und Kompetenzen der Inhaftierten steht im Mittelpunkt. Zu diesen gehören unter anderem die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Stressbewältigung. Werden diese gefördert, fällt der Umgang mit den Haftbedingungen leichter und die inhaftierte Person ist weniger anfällig für psychische Probleme. Auf der anderen Seite tragen Angehörige, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Vermieterinnen und Vermieter dazu bei, Haftschäden zu mindern oder gar zu verhindern. Der Sozialdienst findet im direkten Kontakt zu diesen Personen oft Lösungen für bestehende Miet- oder Arbeitsverhältnisse.

Eine Aufseherin/Betreuerin spielt Tischfussball mit einem Inhaftierten.
Ein Töggeli-Match fördert die Beziehung: Mitarbeitende in der Untersuchungshaft lernen in einem neu entwickelten Ausbildungsprogramm, wie sie die Beziehungen optimal gestalten und die Ressourcen der Inhaftierten fördern. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Mit dem Modellversuch führen elf Untersuchungsgefängnisse probehalber Massnahmen in sechs Bereichen ein, die schädliche Auswirkungen der Haft möglichst verhindern sollen.

01 Eintrittsverfahren mit Sofortmassnahmen

Die Untersuchungshaft reisst Betroffene abrupt aus dem Alltag. Der Sozialdienst führt neu bei Haftantritt ein umfassenderes Gespräch. Zeigen sich akute Probleme, werden Sofortmassnahmen ergriffen.

02 Case-Management

Die Betreuung sowie der Sozial- und Gesundheitsdienst arbeiten enger zusammen. Die Inhaftierten erhalten so individuelle Unterstützung, um sich nach der Haft wieder erfolgreich in die Gesellschaft einzugliedern.

03 Angehörigenarbeit

Inhaftierte können vor allem am Anfang der Untersuchungshaft Schwierigkeiten haben, den Kontakt zu Angehörigen zu pflegen. Dieser soll vereinfacht werden, denn vertraute Menschen sind für die Inhaftierten eine wichtige Ressource für die Wiedereingliederung.

04 Übergangsmanagement

Inhaftierte kommen nach der Untersuchungshaft entweder frei oder müssen eine Strafe verbüssen. Der Übergang in die Freiheit oder in den Strafvollzug wird mit dem Übergangsmanagement enger begleitet.

05 Schulungs- und Trainingsprogramm

Mitarbeitende in der Untersuchungshaft lernen in einem neu entwickelten Ausbildungsprogramm, wie sie die Beziehungen optimal gestalten und die Fähigkeiten der Inhaftierten fördern und erhalten können. Auch hier geht es darum, die Kompetenzen der Betroffenen zu stärken.

06 Weltpremiere im Vollzug: PRISMA

Mit Prison Stress Management (PRISMA) gehen die Untersuchungsgefängnisse neue Wege. Inhaftierte erhalten Anleitungen, wie sie Stress und Probleme bewältigen können. Ein Haftschock lässt sich damit nicht vermeiden, sie erhalten mit PRISMA aber bewährte Hilfe zur Selbsthilfe. Das Programm wurde ursprünglich von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Berufe mit einem hohen Stresslevel, wie Chirurgen und Piloten, entwickelt und dann zur Stressbewältigung für Flüchtlinge erweitert. PRISMA ist nochmals speziell für die Anwendung in Gefängnissen angepasst worden und wird im Rahmen des Modellversuchs als Weltpremiere in der Untersuchungshaft eingeführt.

In vier Sitzungen à 60 Minuten lernen Inhaftierte besser mit dem «Haftschock» und Stress in Gefangenschaft, aber auch mit persönlichen Sorgen und Problemen umzugehen. Das Erlernen verschiedener Strategien und einfacher Methoden gehört ebenso dazu, wie zum Beispiel eine spezielle Atemtechnik. Stress kann damit nachweislich abgebaut werden. Auch lernen die Inhaftierten, zwischen kontrollier-baren und nicht kontrollierbaren Problemen zu unterscheiden. Und wie sie mit letzteren besser umgehen können. Ausserdem wird den Inhaftierten aufgezeigt, wie sie besser mit ihrer Situation umgehen, sinnstiftende Aktivitäten in der Untersuchungshaft erkennen und mit Rückschlägen umgehen können.

In zwei Folgesitzungen wird das Erlernte nach ein paar Wochen vertieft. Geschult werden die Inhaftierten in ihrer Muttersprache oder einer Sprache, die sie gut verstehen. Aktuell sind 25 speziell ausgebildete Trainerinnen und Trainer für die Vermittlung von PRISMA tätig. Dank Videotelefonie können sie das Programm ortsunabhängig und in neun Sprachen anbieten.

Im Gefängnis-Supermarkt kann man bestellte Produkte abholen.
Ein Gefängniseintritt ist ein einschneidendes Erlebnis. Mit verschiedenen Massnahmen wird den schädlichen Auswirkungen der Untersuchungshaft entgegengewirkt. Einkaufsmöglichkeiten sorgen für etwas Normalität im Gefängnisalltag. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

Modellversuch kommt allen zugute

Während des Modellversuchs werden in den elf Untersuchungsgefängnissen Daten gesammelt, die von der ETH und der Universität Zürich am Ende ausgewertet werden. Ein erster Zwischenbericht steht im Herbst zur Verfügung. JuWe geht davon aus, dass die gestarteten Massnahmen einen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Inhaftierten haben und helfen werden, deren wichtige Fähigkeiten und Kompetenzen besser zu erhalten. Das kommt letztlich allen zugute: den direkt Betroffenen, den Angehörigen, dem Vollzugspersonal sowie der Gesellschaft. Die Erkenntnisse aus dem Modellversuch sollen dann auf andere Kantone und Vollzugsinstitutionen übertragen werden.

Ein inhaftierter Mann trainiert an einer Gewichtsmaschine auf dem Innenhof des Gefängnisses.
Auch Fitnesstraining hilft bei der Bewältigung von Stress. JuWe geht davon aus, dass die gestarteten Massnahmen einen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Inhaftierten haben. Quelle: JuWe / Daniel Winkler.

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