0425

Entscheidinstanz
Bezirksräte
Geschäftsnummer
US.2023.18
Entscheiddatum
19. Juli 2023
Rechtsgebiet
Schulrecht (Volksschule)
Stichworte
Schulweg Sehbehinderung Erstklässlerin Verfahrenskosten
Verwendete Erlasse
§ 21 Abs. 1 lit. b VSV § 25 Abs. 1 VSV Art. 62 Abs. 2 BV Art. 2 Abs. 5 BehiG Art. 8 Abs. 2 BehiG Art. 10 Abs. 1 BehiG

Zusammenfassung (verfasst von der Bezirksratskanzlei):

Ein Schulweg von 1.330 Leistungskilometern, bei welchem mehrere Strassen überquert werden müssen, ist für eine stark sehbehinderte Erstklässlerin nicht zumutbar. Verfahrenskosten sind gestützt auf das Behindertengleichstellungsgesetz nicht zu erheben.

Anonymisierter Entscheidtext (Auszug):

Sachverhalt:
Mit Beschluss vom 20. Juni 2023 bestätigte die Schulpflege X die Einteilung von A in eine 1. Klasse im Schulhaus Y für das Schuljahr 2023/24. Gegen diesen Beschluss liessen die Eltern mit Eingabe vom 29. Juni 2023 Rekurs erheben. Sie beantragen, A sei in die 1. Primarklasse der Schule Z einzuteilen. Sie machen geltend, A leide an einer starken Sehschwäche und sei daher auf einen möglichst kurzen, gefahrlosen Schulweg angewiesen.

Erwägungen:

1. [Prozessgeschichte]

2. [Eintreten, Prozessuales]

3.

3.1 [Ausführungen der Schulpflege und der Rekurrenten]

3.2
Bei der Zuteilung der Schülerinnen und Schüler zu den Schulen und Klassen ist auf die Länge und Gefährlichkeit des Schulwegs und auf eine ausgewogene Zusammensetzung zu achten. Berücksichtigt werden insbesondere die Leistungsfähigkeit und die soziale und sprachliche Herkunft der Schülerinnen und Schüler sowie die Verteilung der Geschlechter (§ 25 Abs. 1 der Volksschulverordnung vom 28. Juni 2006 [VSV, LS 412.101]).
Fällt die Schulpflege einen Zuteilungsentscheid, hat sie mit Blick auf den Schulweg zwingend Folgendes zu berücksichtigen: Art. 19 BV gewährleistet in Verbindung mit Art. 62 Abs. 2 BV den Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Zur Garantie eines ausreichenden Unterrichts gehört unter anderem, dass der Schulbesuch faktisch möglich bzw. nicht übermässig erschwert ist. Aus diesem Erfordernis ergibt sich ein verfassungsmässiger Anspruch auf einen zumutbaren Schulweg. Gemäss Lehre und Rechtsprechung richtet sich die Zumutbarkeit eines Schulwegs nach den konkreten Umständen im Einzelfall. Massgeblich sind die Länge des Schulwegs und die zu überwindende Höhendifferenz, die Beschaffenheit des Wegs und die damit verbundenen Gefahren sowie das Alter und die Konstitution des betroffenen Kindes. Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Schulwegs gilt es zu beachten, dass jegliche Teilnahme am Verkehr mit Gefahren verbunden ist, weshalb ein Schulweg nie vollkommen ungefährlich ist. Wesentlich ist daher, ob einem Schulkind die bestehenden Gefahren zumutbar sind, mit anderen Worten, ob keine übermässige Gefährlichkeit besteht. Können Schülerinnen und Schüler den Schulweg aufgrund der Länge oder Gefährlichkeit nicht selbständig zurücklegen, ordnet die Schulpflege auf eigene Kosten geeignete Massnahmen an (§ 8 Abs. 3 Satz 1 VSV).
Was die Länge des Schulwegs betrifft, so gilt gemäss Rechtsprechung eine halbe Stunde Fussmarsch als zumutbar, auch für Kinder im Kindergartenalter. Dies entspricht für Kindergartenkinder einer Distanz von rund 1,4 km, für ältere Kinder von 2,5 km. Diese Obergrenze ist jedoch zu relativieren, wenn der Schulweg mehr als zweimal täglich zu bewältigen ist oder zusätzliche Erschwernisse hinzukommen (Plotke, Schweizerisches Schulrecht, 2. A. 2003, S. 227; Kägi-Diener/Bernet, in St. Galler Kommentar zur schweizerischen Bundesverfassung, 4. A. 2023, Art. 19 N. 80 ff.; VGr, 12. Februar 2009, VB.2008.530, E. 4.1).

Indizien für die Gefährlichkeit eines Weges sind Strassen ohne Trottoirs, insbesondere wenn es sich um enge Durchgangsstrassen mit grösserem Verkehrsaufkommen, mit Lastwagenverkehr oder mit unübersichtlichen Kurven handelt; Übergänge über belebte Strassen ohne Lichtsignale; längere Partien durch einsame Wälder. In städtischen Verhältnissen werden an das richtige Verhalten der Kinder im Verkehr höhere Anforderungen gestellt als auf dem Land. Nicht mehr zumutbar ist einem Kindergartenkind beispielsweise eine Strecke von 1.2 km auf einer kantonalen Verbindungsstrasse, weitgehend ohne Trottoir, mit regelmässigem Schwerverkehr, auch wenn das Verkehrsaufkommen sonst gering ist. Unzumutbar ist trotz Signalanlage auch die Überquerung einer Kantonsstrasse mit täglich mehr als 10'000 Fahrzeugen (Plotke, S. 229 f.).
[…]

3.3
Die Rekurrenten bestreiten die Berechnung der Länge des Schulwegs durch die Schulpflege nicht. Diese ist für eine Erstklässlerin zumutbar. Ihre Fotodokumentation zeigt, dass [auf dem Schulweg mehrere Quartierstrassen und eine Hauptstrasse mit Fussgängerinsel überquert werden müssen]. Es kann offen bleiben, ob dieser Schulweg für eine durchschnittliche Erstklässlerin genügend sicher ist.
Zu berücksichtigen sind gemäss der Rechtsprechung unter anderem auch die Konstitution des Kindes und die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Dr. med. P und Q, dipl. Orthoptistin HF, führen in ihrem Zeugnis vom 14. Juni 2023 aus, bei A bestehe eine höhergradige Hyperopie; sie sei auf das ständige Tragen einer Brille angewiesen. Aufgrund der optischen Vergrösserung des Gesichtsfeldes sei das Gesichtsfeld etwas verkleinert, was zu einer späteren Wahrnehmung von z.B. Verkehrsteilnehmenden führen könne. Sie könnten den Wunsch der Eltern nach einem kürzeren Schulweg nachvollziehen und seien der Schule dankbar, wenn die visuelle Situation der Patientin in der Entscheidung mitberücksichtigt werde.
Dr. med. R, FMH Innere Medizin, führt in seiner Bestätigung vom 23. Juni 2023 aus, er sei der internistische Hausarzt von A. Er bestätige, dass es aus medizinischer Sicht absolut nicht vertretbar sei, dass A einen Schulweg machen müsse, der weiter sei als der absolut minimalst notwendige Schulweg. Argumente wie Sozialisation auf dem Schulweg seien unbedeutend im Vergleich zum nicht vertretbaren medizinisch bedingten, erhöhten Unfallrisiko bei unnötig längerem Schulweg. Es bestehe eine übermässige Unfallgefahr wegen ausgeprägter Sehschwäche. Deshalb dürfe der Patientin ein längerer Schulweg als notwendig nicht zugemutet werden.
Im Zeugnis von Dr. med. P und Q, dipl. Orthoptistin HF, wird zwar nicht klar und dezidiert gefordert, dass A in ein näher gelegenes Schulhaus umgeteilt werden solle. Dies mag daran liegen, dass sie sich höflich ausdrücken wollten. Jedenfalls weisen sie aber klar darauf hin, dass As Gesichtsfeld aufgrund der Sehschwäche bzw. der notwendigen Korrektur verkleinert ist, was zu einer späteren Wahrnehmung von z.B. Verkehrsteilnehmenden führen könne. Eine Erstklässlerin kann Situationen im Strassenverkehr ohnehin noch nicht immer richtig einschätzen; wenn sie zusätzlich an einer solchen visuellen Einschränkung leidet, erhöht sich die Unfallgefahr im Strassenverkehr wesentlich. Der lange Schulweg zum Schulhaus Y, bei welchem mehrere Quartierstrassen und eine Hauptstrasse (wenn auch mit Fussgängerinsel) überquert werden müssen, ist damit für A offensichtlich zu gefährlich.
Auf diese erhöhte Unfallgefahr aufgrund der Sehschwäche weist auch der Schularzt Dr. med. R deutlich hin. Dass er sich im telefonischen Kontakt mit den Verantwortlichen der Schule weniger klar äusserte, tut seinem schriftlichen Zeugnis keinen Abbruch, zumal es inhaltlich mit dem Zeugnis von Dr. med. P und Q, dipl. Orthoptistin HF, übereinstimmt.
Dass der Schulweg ins Schulhaus Y für A zu gefährlich ist, wird auch dadurch nicht widerlegt, dass offenbar den Kindergartenlehrpersonen bzw. den Betreuungspersonen im Hort bisher bei A keine Probleme wegen der Sehschwäche aufgefallen sind. Den Arztzeugnissen kann lediglich entnommen werden, dass aufgrund des eingeschränkten Gesichtsfelds eine erhöhte Unfallgefahr im Strassenverkehr besteht. Diesbezüglich konnten die Lehr- und Betreuungspersonen kaum Beobachtungen machen. Hinzu kommt, dass A bisher einen sehr kurzen und ungefährlichen Weg zum Kindergarten in der Schulanlage Z hatte und somit bisher ohnehin keine Probleme beobachtet werden konnten.
Aufgrund der eingereichten Arztzeugnisse ist damit in genügender Weise nachgewiesen, dass der Schulweg ins Schulhaus Y für A aufgrund ihrer Sehschwäche zu gefährlich ist. Die benötigte Hilfe kann in einem solchen Fall nicht an gleichaltrige SchulkameradInnen delegiert werden, welche den Weg mit A zusammen begehen. Der Schulweg ist damit für A unzumutbar.
Der Weg ins Schulhaus Z ist wesentlich einfacher und kürzer: er beträgt 300 m und verläuft ausschliesslich auf Quartierstrassen. Diesen Weg kann A auch alleine bewältigen, zumal sie ihn bereits aus der Kindergartenzeit kennt.
Die 1. Klasse im Schulhaus Y, wo A eingeteilt worden ist, weist lediglich 21 Schülerinnen und Schüler auf, während die ersten Klassen im Schulhaus Z 23 und 24 Schülerinnen und Schüler aufweisen. Anzustreben sind grundsätzlich ausgeglichene Klassengrössen, damit alle Schülerinnen und Schüler von einer guten und individuellen Betreuung profitieren können. Aufgrund der Sehschwäche von A ist jedoch eine Umteilung unumgänglich. Damit wird auch die maximal zulässige Klassengrösse von 25 SchülerInnen noch nicht überschritten (§ 21 Abs. 1 lit. b VSV).
Damit ist der Rekurs gutzuheissen, und A in eine 1. Primarschulklasse im Schulhaus Z umzuteilen (vgl. dazu VGr, 17. Dezember 2020, VB.2020.555, E. 2.2.1 a.E.).

4.
Ist in einem Verwaltungsverfahren zu prüfen, ob eine behinderte Person bei Aus- und Weiterbildungen benachteiligt wird, dürfen keine Verfahrenskosten auferlegt werden (Art. 10 Abs. 1 i.V.m. Art. 8 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 5 des Behindertengleichstellungsgesetz [BehiG; SR 151.3] vgl. auch VGr, 28. Juni 2017, VB.2016.669, E. 6.1, BGer, 27. Mai 2019, 2C_713/2018, E. A, 4).
[Parteientschädigung]

5.
[aufschiebende Wirkung]

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