«Wir müssen die Selbsthilfe der Natur fördern»
Mitteilung 07.11.2024
Klimawandel und Artensterben sind zwei unserer drängendsten Probleme. Wie interagieren Klimawandel und Biodiversität? Wie wird sich unsere Landschaft verändern? Und wie können wir Gegensteuer geben? Darüber haben wir mit Prof. Niklaus Zimmermann von der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL gesprochen.
«Biodiversität» ist ein Begriff mit einer grossen Karriere in der letzten Zeit. Aber warum ist die Biodiversität überhaupt so wichtig?
Die Biodiversität erbringt eine ganze Reihe von Leistungen für uns Menschen. Pflanzen etwa binden CO2 und produzieren Sauerstoff. Ohne die Vielfalt der Insekten gäbe es keine Bestäubung und viel weniger natürliche Schädlingsbekämpfung und dadurch auch weniger landwirtschaftliche Produkte. Biodiverse Wälder schützen nachhaltiger vor Lawinen, Steinschlag und anderen Naturgefahren.
Im Gegensatz dazu sind Monokulturen viel weniger resilient. Je eintöniger ein Ökosystem ist, desto weniger nachhaltig kann es seine Leistungen erbringen. Von diesen Leistungen sind wir viel abhängiger, als wir denken. Hinzu kommt: Die Natur erbringt sie alle gratis. Müssen wir sie ersetzen, beispielsweise mit Lawinenverbauungen, kostet das viel Geld.
Ökosysteme sind an sich schon komplex und werden von vielen Faktoren beeinflusst. Jetzt kommt auch noch der Klimawandel dazu. Was heisst das für die Biodiversität?
Grundsätzlich ist der Klimawandel eine grosse Herausforderung für die Biodiversität, und der Verlust an Biodiversität verstärkt wiederum den Klimawandel. Wir konnten 2018 im sehr trockenen Sommer in der Ostschweiz Folgendes beobachten: Die Buchen warfen ihre Blätter mitten im Sommer ab, teils starben sie, die Eichen daneben blieben grün und vital. Dank Biodiversität hat der Wald seine Funktionen also erhalten können. Wenn hingegen Wälder grossflächig absterben, wird sehr viel CO2 frei, was wiederum den Klimawandel verstärkt. Biodiversitätsschutz ist also auch Klimaschutz.
Können sich Ökosysteme nicht auch an den Klimawandel anpassen?
Die Natur kann damit umgehen, dass das Klima nicht jedes Jahr identisch ist, sondern recht variabel. Die meisten Tier- und Pflanzenarten ziehen aber bestimmte Klimabedingungen vor. Kaum eine Art kommt auf dem ganzen Globus vor, etwa in den tropischen Regenwäldern und gleichzeitig in der Arktis. Wenn sich das Klima systematisch verändert, trockener und heisser wird, müssen Arten wandern und sich an neuen Orten ansiedeln.
Es gibt Arten, die das gut machen können. Ein Reh oder eine Gämse beispielsweise kann an einem Tag grosse Distanzen zurücklegen. Für kleine Tiere wie die Spitzmaus ist es schon schwieriger, für Schnecken und Würmer, die sich im Boden bewegen, noch schwieriger. Und bei Pflanzen ist es ein sehr langsamer Prozess. Sie müssen aufwachsen, zur Blüte gelangen, Samen bilden und auswerfen und wieder neu aufwachsen. Pflanzen können von wenigen Metern bis zu maximal einem Kilometer pro Jahr wandern. In 100 Jahren kann eine Pflanzenart also nicht einmal die ganze Schweiz durchwandern. Das ist die grosse Herausforderung, die der Klimawandel an die Arten und die Biodiversität an sich stellt: Die Veränderung geschieht momentan zu schnell.
Das unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, den Klimawandel zu begrenzen. Was können wir sonst tun, um die Biodiversität angesichts des Klimawandels zu erhalten?
Die Vernetzung wird extrem wichtig. Bisher haben wir uns auf den Schutz der wertvollsten Flächen konzentriert. Damit wurde die Rote Liste aber nicht kürzer. Sie wird erst kürzer werden, wenn wir die Vernetzung verbessern.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Populationen genetisch ausreichend divers werden, damit sie sich eigenständig untereinander austauschen können. Arten und Individuen müssen wandern. Das können sie aber nur, wenn die Barrieren und Distanzen zwischen den geeigneten Habitaten nicht zu gross werden. Wir können nicht jedes einzelne Lebewesen und jede Art retten. Aber wir können die Selbsthilfe der Natur fördern, indem wir vernetzte Habitate schaffen, was die Wanderung der Arten beschleunigt.
Hier können beispielsweise die Gemeinden darauf achten, mit eigenen Schutzgebieten die Vernetzung von Lebensräumen zu unterstützen und eine vielfältige Landschaft auf Gemeindeebene zu erhalten.
Biodiversität für den Klimaschutz – das können Gemeinden tun:
Biodiversitätsmassnahmen können auch einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, indem sie CO2 binden. Manche Massnahmen tragen auch zur Hitzeminderung bei und steigern so das Wohlbefinden der Bevölkerung im Siedlungsraum. Dafür stehen den Gemeinden verschiedene Instrumente zur Verfügung: die Nutzungsplanung, die Gestaltung und Nutzung der gemeindeeigenen Grundstücke in der Siedlung, im Offenland und im Wald, der kommunale Naturschutz oder Freiraumkonzepte.
Handlungsempfehlungen
- Artenreiche Flächen in Siedlungen schaffen: Einheimische Pflanzenmischungen fördern die Artenvielfalt und sind langfristig stabiler.
- Grüne Städte und Dörfer schaffen: Baumgruppen, Hecken und Grünflächen kühlen Siedlungen und bieten Lebensraum für Tiere.
- Wasserversickerung optimieren: Versickerungsflächen, zum Beispiel durch Reduktion der Unterbauung, sichern den Wasserhaushalt und mildern Hitzeinseln.
- Naturnahe Lebensräume fördern: Vielfältige Landschaften bieten Rückzugsorte für Arten und sichern vielfältige Ökosysteme.
- Vernetzung stärken: Verbundene Lebensräume helfen Arten, sich an den Klimawandel anzupassen.
- Feuchtgebiete renaturieren: Moore binden CO₂ und sind wichtige Lebensräume.
- Resiliente Wälder fördern: Vielfältige und hitze- bzw. trockenheitstolerante Baumarten verbessern die Stabilität des Ökosystems.
- Keine gebietsfremden Arten fördern: Arten aus anderen Kontinenten können bei uns invasiv werden. Dann verdrängen sie einheimische Arten und gefährden das Funktionieren der Ökosysteme.
- Vorbildfunktion einnehmen: Eine naturnahe Gestaltung öffentlicher Flächen motiviert zur Nachahmung und stärkt das Bewusstsein für Biodiversität.
- Bildung, Sensibilisierung und Beratung: Aktionen, Projekte und Bildungsangebote für die Bevölkerung fördern das Verständnis und das Engagement für die Biodiversität.
Ist es sinnvoll, nun südlichere Pflanzen bei uns anzusiedeln?
In der landwirtschaftlichen Produktion ist es sicher sinnvoll, sich zu fragen, mit welchen Pflanzen wir die Ernährung der Bevölkerung unter den Bedingungen des Klimawandels sichern können. Kartoffeln, Mais und Tomaten kommen ja alle aus Südamerika.
Im Wald setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Baumarten durchmischt sein müssen, damit man auch in der Zukunft eine gewisse finanzielle Sicherheit hat. Wir wissen schon länger, dass die Buche zum Ende des Jahrhunderts hin im Mittelland wenig Chancen hat und durch andere Arten wie die Eiche ersetzt wird. Die Fichte wird sich in noch höhere Lagen zurückziehen müssen.
Bei gebietsfremden Arten sehen wir, dass sich Arten aus dem südeuropäischen Raum besser in die Netzwerke unserer Natur integrieren. Diese sind über Jahrtausende eiszeitlicher Schwankungen vom Mittelmeer bis Skandinavien immer miteinander in Kontakt gewesen. Arten aus Asien oder Nordamerika hingegen können stark invasiv werden, wenn natürliche Feinde fehlen und unsere Schädlinge sich nicht schnell genug anpassen können. Deshalb sollte man vorsichtig sein, wenn man Arten von weither holt. Stattdessen sollten wir mit Arten operieren, die auch natürlicherweise rein vom Klima her einwandern werden. Der Klimawandel wird zu einer neuen Kombination von Arten führen, wir können das gar nicht ändern. Also tun wir besser daran, in diese Richtung zu unterstützen.
Ein Blick in die Zukunft: Wird die Schweiz mediterraner oder steppenhafter?
Es wird sicher wärmer. Die Wälder im Tiefland werden dadurch geeignet für immergrüne Baumarten, wie es heute im Tessin schon der Fall ist. Dort zeigen sich nun aber auch die Auswirkungen des starken Wandels. Aus den Gärten entweichen viele immergrüne Gehölze: Die Hanfpalme , die ursprünglich aus Asien stammt, der Kirschlorbeer, der Edel-Lorbeer oder Bambusarten besiedeln nun die Tessiner Wälder. Und sie haben einen Standortvorteil, weil sie im Winter weiterwachsen können, während die einheimischen Eichen, Kastanien und Buchen in die Winterpause gehen. Wenn diese Bäume im Frühling ausschlagen, sind die Immergrünen bereits weitergewachsen und hindern durch ihren Schatten die laubabwerfenden Bäume am Wachstum und an der Verjüngung. Problematisch ist das auch, weil die sich rasch ausbreitende Hanfpalme die Hänge nicht gleich gut stabilisiert wie einheimische Bäume.
Ob das Mittelland steppenhafter wird, hängt davon ab, ob im Sommer auch die Niederschläge stark abnehmen. Wir stehen auf der Kippe zwischen zwei Systemen. Im Moment haben wir die meisten Niederschläge im Sommer und nicht im Winter. Mediterrane Gebiete haben hingegen starke Winterniederschläge kombiniert mit starker Sommertrockenheit. Es ist gemäss Klimatologen noch nicht klar, in welche Richtung es kippt. Wenn es v.a. wärmer, aber im Sommer nicht deutlich trockener wird, geht die Tendenz in Richtung eines Lorbeerwalds.
Was sind unsere vordringlichsten Aufgaben?
Am wichtigsten ist, dass wir die Vernetzung der Ökosysteme unterstützen, beispielsweise mit Biodiversitätsflächen im Landwirtschaftsgebiet. Das braucht Raum. Wichtig ist deshalb, dass wir neue Lösungen finden, welche die Ansprüche aus Landwirtschaft, Energiegewinnung, Landschaftsschutz, Erholung und Biodiversitätsschutz vereinbaren. Nehmen wir etwa den Anbau von Beeren im Schatten von Solarpanels, die auch die Verdunstung reduzieren.
Ein anderes Beispiel: Wechselfeuchte Ökosysteme gehören zu den meistgefährdeten Habitaten. Wir könnten künftig Wasser in Landwirtschaftsgebieten zurückhalten und in heissen Sommern der Landwirtschaft zur Verfügung stellen – denn wechselfeuchte Systeme sind ja darauf ausgerichtet, dass sie im Sommer austrocknen.
Solche und weitere clevere Lösungen brauchen wir. Damit sichern wir der für uns so wichtigen Biodiversität eine Zukunft und lösen gleichzeitig andere Anforderungen wie Nahrungssicherheit, Wassersicherheit oder erneuerbare Energiegewinnung.