Gymischülerin gründet Bildungs­projekt für Frauen in Afghanistan

Mahbube Ibrahimi war ein Baby, als ihre Familie aus Afghanistan floh. Heute unterstützt die Maturandin mit ihrer NGO «Wild Flower» afghanische Mädchen mit Online-Unterricht.

Text: Ruth Hafen Fotos: Stephan Rappo

Mahbube Ibrahimi spricht leise, aber deutlich. Was sie sagt, hat Power, da muss es nicht auch noch laut sein. Im Studentencafé im Zürcher Universitätsviertel wäre ihre Stimme im Lärm der Kaffeemaschine untergegangen.

Draussen am kleinen Tisch auf dem Trottoir, wohlig eingepackt in eine Daunenjacke, sagt Mahbube: «Mein Deutsch ist nicht perfekt, ich mache ja noch megaviele Fehler.» Sie sagt diesen Satz auf Schweizerdeutsch, ein Schweizerdeutsch mit einem leichten Akzent.

Mahbube ist seit gut drei Jahren in der Schweiz, die Sprache hat sie quasi im Schnelldurchlauf gelernt. Heute besucht sie die Atelierschule in Zürich, wo sie sich auf die Matur im nächsten Jahr vorbereitet. Viel freundliche Unterstützung und Förderung, aber auch viel persönlicher Einsatz und Energie haben die junge Frau hierhergebracht.

«Heimat ist für mich dort, wo ich mich sicher fühle, wo ich nicht um meine Familie und mich Angst haben muss.»

Mahbube Ibrahimi
Portrait junge Frau in Bibliothek
Mahbube Ibrahimi besucht in Zürich das Gymnasium. Derzeit arbeitet sie an ihrer Maturarbeit zum Thema Menschenrechte. Quelle: Stephan Rappo

Flucht in die Schweiz

Als Mahbube einen Monat alt ist, flieht ihre Familie aus Afghanistan in den benachbarten Iran. Flüchtlinge sind in Teheran nicht gern gesehen, eine reguläre Schule zu besuchen, ist schwierig. Nach dornigen Erfahrungen an einer öffentlichen Institution kann Mahbube bis zur 9. Klasse eine private Schule besuchen. Bald darauf fliehen die Eltern Ibrahimi mit ihren vier Kindern erneut – bis nach Griechenland.

Mahbube kommt im August 2021 als 16-Jährige unbegleitet in die Schweiz – die Familie folgt später nach. Mahbube wird von Zürich nach Basel geschickt, um drei Monate später wieder nach Zürich transferiert zu werden. Die erste Zeit ist von Corona und Lockdowns geprägt, die Durchgangszentren und Schulen sind voll. Mahbube beginnt, mit Youtube-Videos selbst Deutsch zu lernen. Schweizer Freunde, die sie auf ihrer Flucht übers Internet kennengelernt hat, helfen ihr dabei, Bücher zu kaufen.

Wieder in Zürich, kann sie endlich einen Deutschkurs besuchen, ihre Beiständin verhilft ihr zu einem Platz im Programm Chagall (Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn) am Gymnasium Unterstrass. Dort werden jährlich rund 26 leistungswillige und leistungsfähige Sekundarschülerinnen und Sekundarschüler mit Migrationshintergrund fachlich und persönlich auf die Mittelschule vorbereitet.

Etwas zurückgeben

Bald kann sie die Kantonsschule Küsnacht besuchen und noch mehr Energie darauf verwenden, ihr Deutsch zu verbessern. Mittlerweile spricht die 19-Jährige neben Persisch und Dari – die Persisch-Variante, die in Afghanistan gesprochen wird – auch Englisch, Französisch und Deutsch. Diese drei Sprachen gehören heute zu ihren Lieblingsfächern, wobei sie sagt: «Eigentlich habe ich alle Fächer gern. Und wenn man auch nicht überall gut ist, so kann man doch mit harter Arbeit viel erreichen.» Ihr Bildungshunger ist enorm, sie spielt Klavier, geht joggen, macht Yoga, lernt Judo.

Doch ihre Begeisterung fürs Lernen, für Bildung, beschränkt sich nicht auf ihre eigene Person. Sie möchte etwas weitergeben. Menschlichkeit und Solidarität sind Begriffe, die ihr Leben geprägt haben. Natürlich erlebt sie auch immer wieder Ausgrenzung und Ablehnung, aber in ihrer Familie gilt das Prinzip: Wir wollen etwas zurückgeben, etwas Positives weitergeben. Die Menschlichkeit soll obsiegen.

«Eigentlich habe ich alle Fächer gern. Und wenn man auch nicht überall gut ist, so kann man doch mit harter Arbeit viel erreichen.»

Mahbube Ibrahimi
Portraitaufnahme junger Frau
Mit dem Fernunterricht möchte Mahbube den Zugang zu Bildung ermöglichen. Ihr nächstes Projekt: Aufklärung über Frauenrechte. Quelle: Stephan Rappo

An Afghanistan erinnert sich Mahbube nicht, und wenn man sie fragt, wo denn ihre Heimat sei, sagt sie: «Mein Zuhause, meine Heimat ist Zürich, hier sind meine Familie und meine Freunde. Heimat ist für mich dort, wo ich mich sicher fühle, wo ich nicht um meine Familie und mich Angst haben muss.» Ein Satz, der direkt ins Herz geht, aber auch die Magengrube nicht verfehlt.

Mahbube hat wohl viel Unbeschreibliches erlebt auf ihrer Flucht nach Europa. In ihrer Maturarbeit, die sie auf Englisch schreibt, macht sie die Menschlichkeit zum Thema. Es soll ein Buch werden, das den Begriff philosophisch auslotet. Es soll aber auch ein Buch werden, das die Geschichte vieler Menschen auf ihrer Reise nach Europa erzählt.

Herzensprojekt «Wild Flower»

Mahbube lebt hier in der Schweiz in Sicherheit, sie hat einen Freundeskreis, ist gut integriert, denkt schon voller Enthusiasmusan die Zeit nach der Matur: Sie möchte Medizin studieren. Vergangenheit überlebt, Zukunft aufgegleist, alles paletti – könnte man meinen.

Aber Mahbube hat andere Vorstellungen. «Für mich ist es megawichtig, der Welt etwas Positives zurückzugeben.» Deshalb gründete sie zusammen mit ihrer Freundin Samira Graf im November 2023 das Projekt «Wild Flower». Es ist eine Online-Schule für Mädchen und Frauen in Afghanistan.

Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 haben Frauen in Afghanistan kaum noch Rechte. Mädchen ab der 7. Klasse dürfen nicht mehr zur Schule gehen, sie werden komplett von der Welt abgeschnitten. «Mit ‹Wild Flower› öffnen wir ihnen ein Fenster zur Welt. Sie sollen erfahren, welche Möglichkeiten sie haben, was Menschenrechte bedeuten.»

Fernunterricht für Frauen in Afghanistan

Unterrichtet werden die Mädchen und Frauen (sie sind zwischen 13 und 40 Jahre alt) ein- bis zweimal pro Woche rund 90 Minuten in Gruppen von höchstens vier Teilnehmerinnen. Alles, was es braucht, ist ein Smartphone und Internet. Die Freiwilligen von «Wild Flower» laden einmal im Monat die Prepaid-Karten von der Schweiz aus auf. Englisch, Deutsch, Französisch, aber auch Wirtschaft, Computerskills, Geschichte stehen derzeit zur Auswahl. Aktuell sind es 140 Schülerinnen und es werden laufend mehr.

«Es nicht zu versuchen, ist keine Option für mich»

Darum sucht Mahbube dringend neue Freiwillige, die bereit sind, ihr Wissen nach Afghanistan zu schicken. Mahbube wäre nicht Mahbube, hätte sie nicht schon das nächste Projekt im Köcher: Mit «Growing Together» möchte «Wild Flower» im Kanton Zürich in Asyl- und Durchgangszentren mit geflüchteten (afghanischen) Männern über Frauenrechte sprechen.

«Sie sollen wissen, dass Frauen anziehen dürfen, was sie möchten, dass sie arbeiten dürfen, dass sie entscheiden können, ob und wie viele Kinder sie haben wollen. Viele afghanische Männer akzeptieren das nicht. Hier etwas zuverändern, wird wohl nicht so schnell gehen, aber es nicht zu versuchen, ist keine Option für mich.»

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