Eine Schule mit Laborcharakter

Seit Beginn dieses Schuljahrs ist die Zürcher Kantonsschullandschaft um ein Provisorium reicher: An der Hohlstrasse, gleich neben dem Güterbahnhof, ist eine Filiale der Kantonsschule Wiedikon eröffnet worden. Binnen weniger Jahre soll sie «erwachsen» und selbstständig werden. Ein Augenschein vor Ort.

Text: Jacqueline Olivier Fotos: Andreas Schwaiger

Den Zugang zur neuen Filiale der Kantonsschule Wiedikon (KWI) an der Hohlstrasse zu finden, ist nicht ganz einfach. Bauzäune und Absperrbänder machen unmissverständlich klar: Hier ist noch einiges in Arbeit. Und hat man dann doch endlich einen Eingang entdeckt und schreitet auf der Suche nach dem Sekretariat durch die Gänge mit den unverputzten Wänden des Holzmodulbaus, bestätigt sich der Eindruck des Unfertigen. Dies sei durchaus gewollt, erklärt wenig später die Schulleiterin Nicole Brockhaus-Soldenhoff. Denn die im Sommer 2024 eröffnete Schule ist ein Provisorium – baulich wie organisatorisch.

«Wir wachsen aus der Kantonsschule Wiedikon heraus und werden zur eigenständigen Kantonsschule Aussersihl.» Und diese Selbstständigkeit soll bereits in wenigen Jahren vollzogen sein. Das definitive Schulhaus wird gleich nebenan entstehen, zwischen dem jetzigen Hauptgebäude und dem Naturwissenschaftstrakt. Die Holzmodulbauten, die eine Lebensdauer von 30 Jahren haben, können danach je nach Bedarf an anderen Standorten eingesetzt werden.

Aber jetzt mal langsam: Noch ist das hier die Kantonsschule Wiedikon, Standort Hohlstrasse, wie die offizielle Bezeichnung der ersten Kanti im Zürcher Stadtkreis 4 lautet. Nicole Brockhaus ist Prorektorin der KWI und als solche Standortleiterin der neuen Filiale Hohlstrasse. Die letzten zweieinhalb Jahre hat sie bereits das Projekt für den Standort Hohlstrasse geleitet. Ihr gefalle die Baustellensituation, sagt sie. «Wir wollen eine Schule sein, die Mut hat, etwas auszuprobieren.»

Und tatsächlich fühlt man sich hier im ersten Moment fast wie in einem grossen Laborgebäude. Eines, in dem die Toiletten versuchsmässig mit «xx», «xy», «alle» oder «ü 21» angeschrieben sind.

Gebäude mit grünen und pinken Latten und einem runden Fenster.
Das neue Provisorium an der Hohlstrasse wurde in wenig mehr als einem Jahr erstellt. Quelle: Andreas Schwaiger

Siedler- und Nomadenklassen

Gestartet ist man nach den Sommerferien mit sechs Klassen der beiden an der KWI neu eingeführten Profile: vier Klassen der Fachmittelschule und zwei Klassen des Kurzgymnasiums mit dem Schwerpunktfach Philosophie, Psychologie, Pädagogik (PPP). Diese sechs Klassen werden ausschliesslich an der Hohlstrasse unterrichtet und deswegen Siedlerklassen genannt.

Zusätzlich kommen pro Tag jeweils mehrere Klassen aus Wiedikon ins Provisorium zum Unterricht. Das sind die Nomadenklassen. Der aus allen Nähten platzenden KWI verschafft dieses Arrangement etwas Luft, während an der Hohlstrasse dank der Verzahnung der beiden Standorte die Wiediker Kultur wachsen und gleichzeitig Neues gestaltet werden könne, wie Nicole Brockhaus es ausdrückt.

Um zu klären, wie man zwischen Hohlstrasse und Goldbrunnenstrasse am besten miteinander kutschieren könnte, damit beide profitieren, wurde im Rahmen des Projekts eigens ein Thinktank eingerichtet, der sich mit dem sogenannten «Besiedlungskonzept» beschäftigte. Dieses Gremium reichte dem Rektorat schliesslich drei Vorschläge ein, durchgesetzt hat sich jener der Siedler- und Nomadenklassen.

Für die Erstellung des Stundenplans sei diese Konstellation jedoch eine Herausforderung, wie Nicole Brockhaus einräumt. Und schon im Frühlingssemester werden weitere Nomadenklassen hinzukommen. Doch auch ausserhalb der Stundenplanthematik sind regelmässige Gesamtschulleitungssitzungen wichtig für Absprachen und Gedankenaustausch. Darüber hinaus stehen Nicole Brockhaus und KWI-Rektor Urs Allenspach so gut wie täglich im Kontakt miteinander. Weil aber das Ziel die selbstständige Kantonsschule Aussersihl ist, hat die Schulleiterin an der Hohlstrasse in operativen Fragen weitgehend freie Hand – «bis dorthin, wo es ungerecht würde».

Was bedeutet das genau? Es dürften sich zwar zwei Standortkulturen entwickeln, sind sich Urs Allenspach und Nicole Brockhaus einig, es dürfe aber zum Beispiel nicht sein, dass Lehrpersonen an einem Standort von systematisch besseren Unterrichtsmitteln profitierten als am andern. Denn letztlich sei man eine Schule. 

Roboter aus weissen Legobausteinen.
Da man im Moment noch freie Räume hat, wurden einige für den Aufenthalt der Schülerinnen und Schüler hergerichtet. Im «Simpa-Zimmer» beispielsweise können sie mit weissen Legosteinen und bunter Knete kreativ werden. Quelle: Andreas Schwaiger

Eine «Teilete» zum Monatsende

Den Vorteil, den man am Standort Hohlstrasse gegenüber Wiedikon derzeit naturgemäss noch hat, ist der grosszügig vorhandene Platz. Weil diverse Zimmer noch nicht für den Unterricht benötigt werden, gibt es beispielsweise neben vielen Schulzimmern jeweils einen freien Raum, der während des Unterrichts für spezielle Arbeitsformen oder stilles Lernen genutzt werden kann.

Andere, grössere Räume, die den Jugendlichen zur freien Verfügung stehen, tragen Namen wie «Flüsterzimmer » – der für sich spricht – oder «Simpa-Zimmer», in dem jede Menge weisse Legosteine sowie bunte Knete zum Abschalten einladen, für sich allein oder zusammen mit Kameradinnen und Kameraden. 

Dies entspricht letztlich den beiden Hauptwerten, die sich die Kantonsschule Wiedikon auf die Fahne geschrieben hat: Gemeinschaft und Kreativität.

Zusammenkommen kann man ebenso im «Forum», das den Schülerinnen und Schülern wie auch den Lehrpersonen offensteht. In Ermangelung einer Mensa kann man hier das Essen einem Automaten mit frischen Fertigmenüs entnehmen oder etwas von zu Hause mitbringen und in einem der zahlreichen Mikrowellengeräte wärmen.

Jeweils am letzten Freitag im Monat sind ausserdem alle Schulangehörigen zu einer «Teilete» eingeladen: Jede und jeder bringt etwas zu essen mit und trägt damit zu einem grossen Buffet bei.

«Wir haben Schülerinnen und Schüler aus vielen Nationen», erzählt Nicole Brockhaus, «so kann man sich durch allerlei Spezialitäten durchprobieren. Das kommt sehr gut an.» Täglich sorgt überdies der Gastwirt vom nahe gelegenen italienischen Restaurant mit seinem Pausenkiosk für die kleine Zwischenverpflegung.

Portrait von vier Mädchen.
Ada Mäder, Tara Müller, Medea Bürgler und Emma Löhrer (von links) besuchen die Fachmittelschule am Standort Hohlstrasse und fühlen sich wohl hier. Der Aussenraum fehle zwar noch etwas, aber die Stimmung sei gut. Die speziellen WC-Beschriftungen sind für sie kein Thema. Quelle: Andreas Schwaiger

Auch Lehrpersonen pendeln

Eine neu aufzubauende Schule benötigt natürlich Lehrpersonen. Angestellt sind sie vorderhand von der KWI und pendeln deshalb ebenfalls zwischen den Standorten. In ein paar Jahren werden sie sich entscheiden müssen, ob sie an der KWI bleiben oder zum Team der zukünftigen Kantonsschule Aussersihl gehören wollen.

Nicole Brockhaus vertraut darauf, dass im Verlaufe des weiteren Prozesses die meisten bald wissen werden, wo sie sich mehr zu Hause fühlen.

Für die Schülerinnen und Schüler der Siedlerklassen stellt sich diese Frage hingegen nicht, sie sind längst angekommen. Tara Müller, die die FMS besucht, fühlt sich zum Beispiel sehr wohl hier, obwohl sie die Aufnahmeprüfung an der Kantonsschule Zürich Nord absolviert hatte, dann aber umgeteilt wurde. «Der Aussenraum ist zwar noch nicht fertig, der fehlt etwas, aber die Stimmung ist gut», sagt sie.

Was die Verpflegung betrifft, findet ihre Klassenkameradin Emma Löhrer das Essen aus dem Automaten «recht teuer», sie und viele andere nähmen lieber etwas mit. «Mikrowellen hat es ja zum Glück viele.» Und sonst gebe es auch noch einen Coop in der Nähe.

Die «Teilete» findet Ada Mäder eine «coole Idee». Bei der ersten Durchführung seien fast alle Schülerinnen und Schüler dabei gewesen. «So lernt man sich auch unter den Klassen etwas kennen.»

Medea Bürgler wiederum schätzt, dass momentan noch nicht so viele Siedlerklassen hier sind und die Nomadenklassen für etwas Abwechslung im Haus sorgten.

Erste Entlastung spürbar

«Die ersten Schülerinnen und Schüler», sagt Nicole Brockhaus, «können der Schule nun ihren Stempel aufdrücken, sie für die Zukunft prägen. Und wir als Schulverwaltung können ihnen dafür den Boden bereiten.»

Auch Rektor Urs Allenspach sieht dieser Entwicklung mit Zuversicht und Freude entgegen. «Das Team am Standort Hohlstrasse hat einen ausgezeichneten Start hingelegt», sagt er. Seit einem Jahr im Amt, ist er selbst auf den fahrenden Zug aufgesprungen. «Ich konnte den Leuten, die bereits an Bord waren, noch den Rücken stärken», meint er bescheiden. Auch dem weiteren Aufbau und der anschliessenden Splittung in zwei Schulen blickt er optimistisch entgegen. «Wir planen das alles sorgfältig.»

Was man in Wiedikon bereits spürt, ist eine gewisse Entlastung dank der Nomadenklassen. Die Container, die man auf dem Schulhausareal aufgestellt hatte, konnten abgebaut werden. «Aber sonst ist die Schule hier nach wie vor bis auf den letzten Platz gefüllt», erzählt der Rektor.

Wachsen soll in den nächsten Jahren nur der Standort Hohlstrasse – jedes Jahr um ein Viertel. Dafür ist er schliesslich da – um die steigende Zahl an Schülerinnen und Schülern aufzufangen. In vier Jahren wird man im Provisorium dann mit rund 650 Schülerinnen und Schülern ebenfalls ausgelastet sein.

Verspürt Urs Allenspach nicht schon etwas Wehmut bei dem Gedanken daran, dass man in nicht allzu ferner Zeit in Wiedikon und an der Hohlstrasse getrennte Wege gehen wird? «Die Kantonsschule Aussersihl wird für uns nachher die Schule sein, mit der wir am engsten verbunden bleiben», lautet seine Antwort. Schon heute laufe die Zusammenarbeit zwischen den Standorten sehr unkompliziert, viele Lehrpersonen hätten Spass daran, auch weil sie an der Hohlstrasse viel Neues ausprobieren könnten. Und davon wie auch von der Aufbruchstimmung, ist der Rektor überzeugt, werde man in Wiedikon noch länger profitieren können.