Durch die Sekundarschule tanzen
Schulblatt 18.10.2024
Die Sekundarschule Im Birch in Oerlikon hat gemeinsam mit dem Opernhaus und der Pädagogischen Hochschule Zürich das aussergewöhnliche Projekt «Die Schule tanzt!» entwickelt. Die positiven Effekte sind zahlreich und durch empirische Befunde gestützt.
Text: Jacqueline Olivier Fotos: Dieter Seeger
Es ist ruhig im Anbau des Opernhauses Zürich an diesem regnerischen Montagmorgen kurz vor 8.30 Uhr. Der grosse, etwas nüchtern wirkende Eingangsbereich, in dem sich die noch geschlossenen Billettkassen befinden, wirkt wie ausgestorben. Dies ändert sich wenige Minuten später schlagartig, als gut 40 Jugendliche in Begleitung einiger Lehrpersonen durch die sich automatisch öffnende Glastür den Raum betreten: Nasse Turnschuhsohlen quietschen auf dem glatten Boden, es wird gekichert, geschwatzt, herumgealbert. Einige der jungen Besucherinnen und Besucher schauen etwas befangen zu Boden oder ins Leere, andere lassen verstohlen den Blick durch den Raum schweifen.
Den 1.-Sek-Schülerinnen und -Schülern der Schule Im Birch scheint im Moment noch nicht ganz klar zu sein, was sie in den kommenden Stunden erwartet. Anders die Lehrpersonen – sie machen das hier nicht zum ersten Mal.
Vor drei Jahren hat die Schule zusammen mit dem Opernhaus ein gross angelegtes Projekt gestartet: «Die Schule tanzt!» Wie ein roter Faden begleitet das Thema Tanz seither die Jugendlichen sämtlicher Sekundarschulklassen durch die drei Jahre ihrer Oberstufenschulzeit – bis zur grossen Abschlussproduktion am Ende der 3. Klasse. Heute findet für die erste Hälfte der Erstklässlerinnen und Erstklässler die Einführung statt, die zweite Hälfte wird zwei Wochen später das gleiche Programm durchlaufen.
Postenlauf durchs Opernhaus
Bettina Holzhausen ist im Opernhaus für die Tanzvermittlung zuständig. Nach der Begrüssung führt sie die Besucherinnen und Besucher durch eine weitere Glastür ins Opernhaus, erzählt im prunkvollen Foyer kurz etwas über das Gebäude – über die Entstehung oder darüber, dass hier nicht alles, was wie Marmor aussieht, tatsächlich Marmor ist, sondern «Fake». Dann geht es über die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe weiter nach oben in den «Spiegelsaal».
Dort fühlt Bettina Holzhausen den Schülerinnen und Schülern erst einmal den Puls: Wer hat schon einmal irgendwo irgendwie getanzt? Wer findet, dass Tanzen Spass macht? Und wer findet Tanzen peinlich? Wer den Fragen zustimmt, soll sich jeweils zur Fensterfront begeben, die anderen Richtung Türe.
Getanzt haben alle schon einmal, doch bei den nächsten beiden Fragen driftet die Gruppe auseinander. Während fast allen Mädchen das Tanzen Spass macht, sind es bei den Buben nur eine knappe Handvoll. Dass Tanzen peinlich sei, finden ebenfalls fast alle Jungs, bei den Mädchen bleiben einige unschlüssig in der Mitte des Saals stehen und beginnen miteinander zu diskutieren.
Nach dieser Aufwärmrunde geht es in fünf Gruppen, begleitet von den Lehrpersonen und zwei Vermittlerinnen, die Bettina Holzhausen unterstützen, schon bald weiter zu einem Postenlauf durch das Haus. Beim Posten «Cat Walk» dürfen sich die Schülerinnen und Schüler mithilfe verschiedener Kostüme und Accessoires in edle Damen, elegante Herren oder sogar in Könige oder Königinnen verwandeln. So gekleidet, sollen sie daraufhin angemessenen Schrittes die Treppen hoch- und wieder runtergehen oder einmal quer durch das Foyer schreiten. Das klappt angesichts der ungewohnten Roben und des Spasses an der Verkleidung nicht immer so ganz.
Ein anderer Posten ist der «Beobachtung» gewidmet. Hier notieren und besprechen die Jugendlichen, was ihnen im Haus bisher Besonderes aufgefallen ist. Bei der «Mind Map» beantworten sie mithilfe von Post-it-Zetteln die Fragen: «Was willst du über Tanz wissen?», «Wann tanzt du?» und «Was ist Tanz für dich?».
Zwischendurch nimmt eine der Vermittlerinnen die Schülerinnen und Schüler mit in den Zuschauerraum, von wo sie den Bühnenarbeitern beim Aufbau des nächsten Bühnenbilds zuschauen können und einige wissenswerte und überraschende Details über den Opernhausbetrieb erfahren – etwa was ein eiserner Vorhang ist oder dass der grosse Kronleuchter aus dem 19. Jahrhundert jeweils in der Sommerpause heruntergefahren und minuziös geputzt wird, und zwar jedes einzelne Glas und jede noch so verschnörkelte Verzierung.
Ganz oben, im zweiten Rang, wird vor der Theke für die Pausengetränke mit Bettina Holzhausen getanzt – ein einfacher Tanz, der viel Spielraum lässt für eigene Ideen und Interpretationen. Während einige Jugendliche gleich mit vollem Elan dabei sind, brauchen andere etwas Anlaufzeit oder wissen überhaupt nicht so recht, was sie mit Armen und Beinen anfangen sollen.
Der fünfte Posten schliesslich führt hinter die Kulissen: In einem der Ballettsäle, in denen die Compagnie trainiert, erzählt die junge Tänzerin Mariko Ackermann den Jugendlichen, wie viele Nationen im Ballett Zürich zusammen tanzen, wann und wie sie selbst zu tanzen begonnen und über welche Ausbildung ihr Weg sie ins Junior-Ballett des Opernhauses geführt hat. Sie beantwortet Fragen der Schülerinnen und Schüler und lässt sie eine typische Ballett-Pose an der Stange einnehmen – oder es zumindest probieren.
Corona etwas entgegensetzen
Es gehe an diesem Vormittag darum, das Haus etwas kennenzulernen, sagt die Lehrerin Marie-Paule Moureau, die das Projekt «Die Schule tanzt!» angestossen hat. Das war nach dem ersten Corona-Lockdown mit den Schulschliessungen. Ab dem Sommer 2020 konnte Schule zwar wieder stattfinden, aber niemand habe so recht gewusst, wie es weitergehen würde. Und ein normaler Schulalltag war angesichts immer wieder neu angepasster Massnahmen weiterhin erschwert.
«In dieser Situation wollte ich etwas unternehmen, um das Gemeinschaftsgefühl wieder zu stärken.» Die kulturinteressierte Lehrerin stiess auf der Website des Opernhauses auf das Vermittlungsangebot für Schulen und kontaktierte Bettina Holzhausen. Was daraus folgte, basiere eigentlich auf einem Missverständnis, verrät sie schmunzelnd. «Ich habe die verschiedenen Angebote für die Schulen gesehen und gesagt, die möchte ich für unsere Schule buchen.» So ist aus einzelnen Angeboten dank Bettina Holzhausen, die den Gedanken sofort aufnahm und weiterspann, ein dreijähriges Programm nur für die Sekundarschule Im Birch entstanden.
Angesichts dieser Dimension sei sie über die Idee zuerst etwas erschrocken, erzählt Schulleiterin Regina Haller. Trotzdem hat sie sich an die Arbeit gemacht und gemeinsam mit einem Schlüsselteam, in dem auch Bettina Holzhausen involviert war, einen detaillierten Projektauftrag erstellt, der anschliessend dem gesamten Schulteam vorgelegt wurde.
«Zunächst war durchaus eine gewisse Skepsis vorhanden», sagt die Schulleiterin, «darum haben wir den Entscheid noch ein wenig vertagt.» Doch irgendwann waren alle mit dem Vorhaben einverstanden, und mit Beginn des Schuljahrs 2021/22 starteten vier 1.-Sek-Klassen das grosse Abenteuer.
Von Anfang an mit von der Partie war die Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH). Das Projekt nicht einfach ins Blaue hinaus zu lancieren, sondern wissenschaftlich begleiten zu lassen, war Bettina Holzhausen wichtig. Enikö Zala-Mezö, Leiterin des Zentrums für Schulentwicklung, und ihre Mitarbeiterin Jelica Popović werten Beobachtungen, Befragungen von Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonen und Eltern im Rahmen der Begleitforschung laufend aus. So können Dinge, die gut funktionieren, gestärkt und jene, die weniger gut funktionieren, vorzu angepasst werden.
Das Projekt wird zum Alltag
Vor den Sommerferien 2024 hat der erste Jahrgang abgeschlossen – und Regina Haller ist hellauf begeistert. «Mir hat es total den Ärmel reingenommen», sagt sie. Und wie um das zu begründen, schiebt sie gleich hinterher: «Es ist unglaublich, welche Entwicklung in diesen drei Jahren bei den Jugendlichen stattgefunden hat.» Dabei sei vor allem das erste Jahr mit den Pionierklassen ziemlich harzig verlaufen.
«Die Schülerinnen und Schüler waren zu Beginn etwas widerwillig», erzählt Bettina Holzhausen. Die nachfolgenden Klassen hingegen fragten nicht mehr, warum sie tanzen müssten – weil sie bereits eine Abschlussvorstellung der Vorgängerinnen und Vorgänger besucht oder zumindest von dem Projekt gehört hätten. Auch das Programm hat sich mittlerweile gefestigt.
In jedem Schuljahr finden diverse Veranstaltungen statt: vom Besuch einer Ballettprobe mit Einführungsworkshops über Tanzworkshops in verschiedenen, von den Jugendlichen ausgewählten Tanzstilen im Sportunterricht, Führungen durch das Opernhaus und die Werkstätten, ein Choreografieprojekt mit anschliessender «Werkstatt-Aufführung» bis zum Besuch einer Ballettaufführung.
Im dritten Jahr erarbeiten die Jugendlichen dann als krönenden Abschluss in klassenübergreifenden Gruppen mit professionellen Choreografinnen und Choreografen je ein Tanzstück. Die Aufführungen finden vor den Sommerferien auf der grossen Bühne im Singsaal statt.
Selbstverständlich werden auch die Eltern von Anfang an einbezogen. Und das Schulteam erhält die Möglichkeit für Weiterbildungen oder wird am jährlichen Q-Tag über den aktuellen Stand informiert – mit anschliessender Reflexion über die Weiterentwicklung.
Kaum noch Konflikte
Was ist denn nach heutigen Erkenntnissen der konkrete Gewinn des Projekts? Da sehen die drei Verantwortlichen von Schule, Opernhaus und PHZH weit mehr als nur einen. Etwa, dass die Jugendlichen zu Erfolgserlebnissen kommen, die sie sonst nicht hätten, wie Regina Haller sagt. Oder die Stärkung der Gemeinschaft über die Klassen hinweg, was laut Enikö Zala auch die Schülerinnen und Schüler selbst wahrnehmen.
«Umgekehrt merken sie auch, was es für eine Gruppe bedeutet, wenn kurzfristig ein oder zwei Personen für eine Aufführung absagen, wie dies im ersten Jahrgang passiert ist», sagt Bettina Holzhausen. Es entstehen zudem neue Freundschaften, und selbst mit den Kindern der Primarschule kommen die Jugendlichen in Kontakt, weil sich dort der Singsaal befindet. All dies, stellt Regina Haller fest, führe dazu, dass man an der Schule kaum noch Probleme mit Konflikten oder gar Gewalt habe. Und dies helfe den Schülerinnen und Schülern ebenso wie dem Schulteam oder den Eltern.
Enikö Zala und Jelica Popović setzen ihre Begleitforschung fort. Sie untersuchen die Kooperation zwischen dem Opernhaus und der Schule Im Birch, identifizieren Erfolgsfaktoren und Herausforderungen und gehen der Frage nach, wie sich das Projekt auf die Schule auswirkt. Dafür haben die beiden Frauen nun noch etwas länger Zeit, denn die Schule will das Projekt über den ursprünglich geplanten Zeitraum hinaus weiterführen. Was die drei Projektverantwortlichen unisono als ausgesprochen sinnvoll bezeichnen, schliesslich sei es inzwischen fest implementiert.
Für Regina Haller zumindest steht heute schon fest, dass ihre Schule langfristig weiter tanzen soll. «Wir hatten schon früher das eine oder andere Tanzprojekt», sagt sie, «aber hier geht es nicht um ein einmaliges Feuerwerk, das Projekt bringt einen echten Wandel in die Schule.»
Weitere Informationen über «Die Schule tanzt!» sowie ein Video über den ersten Jahrgang gibt es unter www.opernhaus.ch.
Tanzen in der Schule
Die Auswahl an Tanzprojekten für Schulen ist gross. Nachfolgend eine Auswahl von Angeboten, die über Schule + Kultur gebucht werden können:
- «Let’s dance, Giac! – So tanzen Giacomettis Skulpturen»: Eintägiger Workshop an der Schnittstelle zwischen Tanz- und Kunstvermittlung im Kunsthaus Zürich. Eignung: 4. bis 6. Primar.
- «Das tanzende Klassenzimmer»: Dieser Tanzworkshop bringt auf spielerische Weise Bewegung in die Klasse. Eignung: Primar, Sek I und II.
- «Echt stark!»: Tanzworkshop oder Projektwoche zum Thema Heldinnenund Helden. Eignung: Primar.
- «Durango Fusion»: Westafrikanische Künstler geben Einblick in ihre Kultur und lassen die Klasse in eine Welt voller Rhythmen, Tanz und Freude eintauchen. Eignung: Kindergarten, Primar, Sek I und II.
- «Game Theory oder Auf die Plätze, fertig, tanz!»: Tanzvorstellung im Schulhaus, die unsere Lieblingsspiele zeigt. Mit anschliessenden Workshops. Eignung: 3. bis 6. Primar, Sek I und II.
Weitere Informationen gibt es unter: www.schuleundkultur.zh.ch