Vas-y, Marius!

Als erster Schüler mit einer körperliche Beeinträchtigung war Marius Moser aus Zürich ein Jahr in Lausanne im Sprachaufenthalt. Eine Erfahrung, die er allen ans Herz legen möchte.

Text: Ruth Hafen Fotos: Stephan Rappo

Nachdem Marius seinen ersten Schultag im August 2023 an der Schule «La Cassagne» absolviert hat, fällt er im Wohnheim in sein Bett und schläft gleich ein. Die erste Zeit, erinnert sich der 17-jährige Jugendliche fast ein Jahr später, sei enorm anstrengend gewesen, er habe sich nur mit Mühe über Wasser halten können. «Am Anfang bin ich mir vorgekommen, als müsste ich mich an einem Zug festhalten, der mit 200 Sachen unterwegs ist.» Dazu noch ein Zug, in dem alles auf Französisch angeschrieben ist, der Lokführer und die Mitreisenden alle nur Französisch sprechen – und das auch mit gefühlten 200 km/h.

Nahaufnahme eines Jungen, der in einer Hängematte sitzt
Als erster Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung war Marius Moser aus Zürich ein Jahr in Lausanne im Sprachaufenthalt. Quelle: Stephan Rappo

Emotionale Achterbahnfahrt

Marius Moser ist der erste Zürcher Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung – er hat Cerebralparese und ist im E-Rollstuhl unterwegs –, der einen Sprachaufenthalt machen kann. Die obligatorische Schulzeit absolvierte er an der Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen (SKB) in Zürich Wollishofen.

Als sich die Frage nach der nahen Zukunft stellte, stand zunächst ein Sprachaufenthalt in England zur Debatte. Der kam dann aber aus diversen Gründen nicht zustande. «Wieso nicht ein Welschlandjahr?», fragte ihn sein Klassenlehrer Matthias Dittmeier. Er unterhält seit einiger Zeit mit seinen Schülern einen Briefwechsel mit der Klasse in Lausanne, in der Marius seit nun bald einem Jahr lernt. Schnell gesagt, nicht so schnell getan.

Es zogen mehrere Monate ins Land, bis kurz vor den Sommerferien 2023 klar wurde, dass das Projekt Sprachaufenthalt für Marius zum Fliegen kommen würde. «Es war für uns alle eine emotionale Achterbahnfahrt », erinnert sich seine Mutter Annik Bänziger. «Auch im Hinblick auf das Behindertengleichstellungsgesetz war klar, dass Marius diese Möglichkeit bekommen sollte.»

Wie viele Leute sich über alle Behördengrenzen hinweg für ihren Sohn eingesetzt hätten, sei eindrücklich gewesen, fügt sie an. Während Marius vor allem mit der Ungewissheit klarkommen musste, nahmen seine Eltern zusammen mit dem Klassenlehrer, der Schulleiterin, der Kreisschulpflege, dem Volksschulamt und diversen juristischen Abteilungen des Kantons eine bürokratische Hürde nach der andern. Bis es kurz vor Ende der Schulzeit hiess: Vas-y, Marius, auf nach Lausanne!

Im kalten Lausanner Sprachbad findet sich Marius relativ schnell zurecht und er lernt rasch, dass niemand ihn auslacht, wenn er nicht alles auf Anhieb versteht. «Ich hatte vom Französischunterricht in Zürich eine gute Basis, aber es ist dann schon etwas anderes, beim Mittagessen auch noch Französisch sprechen zu müssen und den Lausannern zuzuhören, die einfach reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.»

Auch die Klassenlehrerin Monika di Franco, eine gebürtige Bernerin, sowie der treue Freund Google Translate helfen dabei, eine Brücke über den Sprachgraben zu schlagen. Schon nach zwei, drei Monaten fühlt sich Marius pudelwohl in der neuen Alltagssprache.

Marius Moser sitzt in einer Hängeschaukel in einem Garten.
Neben Französisch hat Marius Moser in der Romandie auch gelernt, selbstständig zu sein. «Es war eine super Erfahrung», sagt er. Quelle: Stephan Rappo

Lernen, für sich einzustehen

Was gefällt ihm besonders am Sprachaufenthalt in Lausanne? Marius muss nicht lange überlegen und antwortet mit einem Leuchten in den Augen. «Besonders gefällt mir, dass ich unabhängig bin. Ich konnte sehr gut profitieren von meinen sozialen Kontakten, habe gut Anschluss gefunden. Ich habe vor allem gelernt, für mich einzustehen, unabhängig von meinen Eltern und meinen Betreuungspersonen. Ich habe gelernt, selbstständig zu sein; ich kann jetzt der sein, der ich wirklich bin.»

Er hat zum Beispiel gelernt, Hürden, die sich im Alltag stellen, mit höflicher Hartnäckigkeit aus dem Weg zu räumen. Wie die Sache mit dem WC. «Ich musste oft warten, bis ich auf die Toilette gehen konnte. Irgendwann ist mir dann der Geduldsfaden gerissen und ich habe mit der Chefin des Betreuungsteams gesprochen und ihr klargemacht, dass das eine Zumutung für mich sei. Ich habe sie höflich gebeten, das zu ändern. Et voilà, es hat geklappt!»

Selbstständig ist Marius nicht nur in der Lausanner Schule, sondern auch auf dem Weg dorthin. Mittlerweile legt er die ganze Strecke vom Wohnort in Zürich mit dem Zug nach Lausanne und dort mit Metro und Bus in die Schule und ins Wohnheim «La Vallonnette» ganz allein zurück. Er ruft bei Bedarf bei den SBB an, weil die Strecke nicht überall rollstuhlgängig ist. Er lernt sogar, sich durchzuschlagen, wenn alle Stricke reissen.

«Einmal war auf dem Weg nach Zürich schon in Fribourg alles aus. Es fuhren keine Züge mehr. Nach ein paar Schreckminuten habe ich mich aufgerappelt und mithilfe einer Mitreisenden eine Lösung für die Heimreise organisiert.»

«Macht das unbedingt!»

Am Leben in der Romandie schätzt Marius auch das Entspannte. «Die Leute sind dort ruhiger, lassen sich mehr Zeit.» In der Schule bleibt neben dem Lernstoff immer auch Zeit für Diskussionen, was ihm besonders gefällt. Als politisch interessierter junger Mann kreuzt er gerne die Klingen – vorwiegend mit den Erwachsenen, die Gleichaltrigen seien leider noch nicht so für politische Themen zu begeistern.

In seiner Freizeit hört er gerne Hörbücher, etwa die Detektivgeschichten von Anthony Horowitz, einem englischen Autor. Oder er konsumiert Podcasts zu politischen Themen und Zeitgeschichte. Die klassischen Interessen seiner Altersgruppe, vor allem Social Media, habe er noch nie geteilt. Doch ein Hobby, dem alle Teenager mit Inbrunst frönen, hat auch er: den Eltern widersprechen. Auf die Frage, was er sagen würde, wenn er für andere Jugendliche in Sachen Sprachaufenthalt einen Werbespot machen müsste, antwortet er wie aus der Pistole geschossen und strahlt dabei schelmisch in Richtung Mutter: «Macht es einfach! Schon alleine, damit ihr von euren Eltern wegkommt!»

Eines ist sicher: In seinem Jahr in Lausanne konnte Marius Entwicklungsschritte in Siebenmeilenstiefeln machen – in sprachlicher, aber auch in persönlicher Hinsicht. Darum ruft er allen zu, die sich einen solchen Schritt überlegen: «Es war eine super Erfahrung, macht das unbedingt! Es kann euch nichts passieren. Ausser, dass ihr eine neue Sprache lernt und neue Gspänli findet.»

Für diese Meldung zuständig: