Neue Weichenstellung für die Gymnasien

Nach fast drei Jahrzehnten wurden die nationalen Rahmenbedingungen für die Gymnasien grundlegend überarbeitet. Im Kanton Zürich nutzt man nun den Spielraum, um eigene Akzente zu setzen.

Zwei Schülerinnen bauen aus Einzelteilen einen Roboter zusammen.
Informatik wird neu zum Kanon der Grundlagenfächer zählen. Quelle: MNG

Text: Jacqueline Olivier

Mehr Vertiefung, mehr Interdisziplinarität, bessere Vergleichbarkeit – so lautet gemäss Patrizia Rüefli, Beauftragte Mittelschulen im Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) des Kantons Zürich, auf einen sehr kurzen Nenner gebracht das Ziel der laufenden kantonalen Gymi-Reform «WegZH».

Natürlich findet diese nicht im luftleeren Raum statt, sondern im Zuge des nationalen Projekts «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) von Bund und Kantonen. Dessen Ziel, so ist auf der entsprechenden Website nachzulesen, sei es, die anerkannte Qualität der gymnasialen Maturität auf lange Sicht zu sichern und den prüfungsfreien Zugang zur Universität sicherzustellen. Denn mittlerweile ist es rund 30 Jahre her, seit man sich letztmals umfassend mit dieser Maturität befasst hat.

Seither hat sich die Welt weitergedreht, und es kamen laufend neue Themen und Herausforderungen auf die Gymnasien zu. Immer wieder hat man sich zwar punktuell angepasst, aber das rechtliche Grundgerüst blieb: das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR), die Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV) sowie der Rahmenlehrplan von 1995.

Aufgrund des nationalen Projekts hat man sich vor zwei Jahren auch im Kanton Zürich auf den Weg gemacht – oder besser auf den «Vorweg». So hiess ein breit angelegtes, partizipatives Vorprojekt des Mittelschul- und Berufsbildungsamts, das in Zusammenarbeit mit der Schulleiterkonferenz (SLK) und der Lehrpersonenkonferenz Mittelschulen (LKM) durchgeführt wurde. Unter anderem wurden Einschätzungen, Ideen und Wünsche von Lehrpersonen, Schulleitungsmitgliedern sowie Schülerinnen und Schülern aufgenommen, diskutiert und ausgewertet.

Auf dem Vorprojekt aufbauen

Vom «VorwegZH» ging es Anfang 2024 nahtlos weiter zum «WegZH». In diesem Projekt geht es um die Umsetzung dessen, was auf nationaler Ebene mittlerweile beschlossen wurde: MAR und MAV wurden 2023 verabschiedet und treten am 1. August 2024 in Kraft. Auch der neue Rahmenlehrplan soll auf den 1. August rechtsgültig werden. Die Kantone hätten jedoch wie bisher einen gewissen Spielraum, sagt Patrizia Rüefli, und den wolle man, abgestützt auf die Erkenntnisse aus dem Vorprojekt, nutzen. Dieses habe viel gebracht, meint sie: «Es gibt uns eine Zielrichtung vor und hilft uns nun, die kantonalen Vorgaben zu definieren.»

Auch «WegZH» ist partizipativ ausgerichtet – SLK und LKM sind erneut mit an Bord. Im Fokus stehen momentan die Fächer. Die neuen Fassungen von MAR und MAV haben eine klare Ausrichtung: Die Maturitätsabschlüsse sollen sowohl kantonsübergreifend als auch innerhalb der Kantone besser vergleichbar werden.

Die Basis hierfür bilden die Grundlagenfächer, zu denen neu auch Informatik sowie Wirtschaft und Recht zählen. Sie sollen den Schülerinnen und Schülern die Mindestkompetenzen für die allgemeine Studierfähigkeit
vermitteln. Im Kanton Zürich, so hat es der Bildungsrat vor wenigen Wochen beschlossen, sollen sie sich ausserdem klar abgrenzen vom Wahlpflichtbereich, sprich von den Schwerpunktund Ergänzungsfächern. Gleichzeitig soll die Dotierung der Grundlagenfächer im Verlaufe der Ausbildung ab- und jene der Fächer im Wahlpflichtbereich zunehmen. Dadurch erhalten die Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Schulzeit mehr Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten.

Eine wichtige Maxime lautet zudem: Die gesamte Lektionenzahl darf nicht steigen, denn die Jugendlichen sollen keine zusätzliche Belastung erfahren.

Profile nicht mehr zeitgemäss

Damit sind die Profile, die im Kanton Zürich mit der Reform von 1995 eingeführt wurden und Grundlagen- und Schwerpunktfächer eng miteinander verknüpften, Geschichte. Dies entspricht nicht zuletzt einer Forderung, welche die Schulleiterkonferenz 2022 in einem Positionspapier zur Zukunft der Gymnasien gestellt hatte. Die Profile, so hiess es in dem Papier, seien nicht mehr zeitgemäss. Sie haben allerdings bislang zur Identität einer Schule beigetragen, weiss Patrizia Rüefli. Nun müssten sich die Schulen mittels ihres individuellen Angebots oder pädagogischer Modelle – etwa spezieller Lehrgänge – einen eigenen Stempel aufdrücken. Und natürlich nach wie vor mithilfe einer individuellen Schulkultur. Eine wichtige Bedeutung wird in Zukunft den Schwerpunktfächern zukommen.

Im Kanton Zürich mit seinen derzeit 22 Kantonsschulen wird ein kantonaler Katalog erstellt, der alle MAR-/MAV-Bereiche abdecken soll. Zudem soll sichergestellt werden, dass den Schülerinnen und Schülern innerhalb einzelner Regionen jeweils das gesamte Spektrum an Schwerpunktfächern angeboten wird.

Welche Schulen zu welcher Region zählen werden, steht noch nicht fest. Da die nationalen Rechtsgrundlagen mehr Interdisziplinarität vorschreiben, ist ausserdem vorgesehen, dass ein Teil der Lektionen in jedem Schwerpunktfach interdisziplinär stattfinden soll. «Interdisziplinarität wird heute vorwiegend in Sondergefässen wie Projektwochen oder -arbeiten praktiziert. Wir möchten sie zusätzlich stärker im Regelunterricht verankern», erklärt Patrizia Rüefli. «Es geht darum, das interdisziplinäre Denken zu fördern, das auch an den Hochschulen und in der Berufswelt immer wichtiger wird.»

Ein stärkerer Fokus auf der Interdisziplinarität ist ganz im Sinne der Schulleiterkonferenz, wie Präsident Andreas Niklaus betont: «Reale Probleme lassen sich heute nur durch interdisziplinäres Denken lösen», sagt er. «Darum muss man wegkommen vom reinen Fachdenken. Die Schülerinnen und Schüler sollen 31 Schulblatt Kanton Zürich 3/2024 Mittelschule inhaltliches Wissen und erworbene Denkkonzepte fächerübergreifend nutzen können.»

Neben Interdisziplinarität, fährt der Rektor der Kantonsschule Zürich Nord fort, müssten in Zukunft weitere überfachliche Kompetenzen, etwa in den Bereichen «Nachhaltige Entwicklung», «Politische Bildung» oder «Digitalität», im Fachunterricht wie auch in speziellen Unterrichtsgefässen, vermittelt und von den Jugendlichen erworben werden. «Dies braucht Zeit, und wenn das Verhältnis von fachlichen und überfachlichen Inhalten nicht gut austariert ist, führt dies zu einer Überforderung der Schülerinnen und Schüler.»

Gewinner sind die Jugendlichen Interdisziplinärer Unterricht, räumt Andreas Niklaus ein, sei zwar aufwendiger, da er unter anderem mehr Absprachen erfordere. «Umgekehrt ergibt sich aus der Zusammenarbeit zwischen den Fächern sehr viel Spannendes und Fruchtbares», ist er überzeugt. Auch dass für die Schülerinnen und Schüler mehr Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten geplant sind, begrüsst der SLK-Präsident. «So können sie sich gegen Ende der Ausbildung dem widmen, was sie interessiert, und das muss nicht deckungsgleich sein mit dem, was sie allenfalls studieren wollen. Denn dafür sind die Grundlagenfächer da.» 

Philipp Michelus, Präsident der Lehrpersonenkonferenz Mittelschulen, steht der Reform ebenfalls positiv gegenüber. Risiken sieht er momentan vor allem zwei: Die zukünftigen Lehrpläne für den Grundlagenbereich könnten überfrachtet sein, und das Selbstbild einiger Lehrpersonen könnte ins Wanken geraten. «Wir sehen uns ja grundsätzlich als Experten unseres Fachs», sagt der Deutsch- und Philosophielehrer vom Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium (MNG) Rämibühl, «für die angestrebte Interdisziplinarität müssen wir aber vermehrt über die Grenzen unserer Disziplinen hinausschauen.» Für ihn könnte dies in der Praxis so aussehen: Lehrpersonen werden in den ersten zwei Jahren des Kurzgymnasiums Grundlagen mit Blick aufs Überfachliche vermitteln. «So kann man ab dem dritten Jahr interdisziplinär in Projekten arbeiten – propädeutisch.»

Im Weiteren beurteilt der LKM-Präsident das, was mit der Reform angestrebt wird, als positive Entwicklung für die Schülerinnen und Schüler. «Wenn sie die Gewinnerinnen und Gewinner der Reform sein sollen, müssen sie punktuell und exemplarisch in die Tiefe arbeiten können und mehr Freiheiten haben. Schon heute sehen wir, wie sie in Ergänzungsfächern oder Projektarbeiten aufblühen.» Die Lehrpersonen hingegen
bräuchten Reflexionszeit und Weiterbildungen, um sich auf neue Arbeitsmethoden einstellen zu können. «Am besten wäre es, die Schulen würden jetzt schon anfangen, gewisse Dinge auszuprobieren. Am MNG beispielsweise ist geplant, auf das neue Schuljahr hin ein interdisziplinäres Labor einzuführen.»

Ambitiöser Zeitplan

Respekt haben alle Beteiligten vor dem engen Zeitkorsett: Bis zum Frühling 2025 muss alles, was in die kantonale Rechtsetzung einfliessen wird, parat sein, wie Patrizia Rüefli erklärt. «Das Schulfeld ist über die Projektstruktur gut eingebunden. Die grosse Herausforderung wird sein, die unterschiedlichen Interessen und Zielvorstellungen innert kurzer Zeit aufeinander abzustimmen und gute, tragfähige Lösungen zu entwickeln.» Erst recht, weil die Diskussionen um die konkreten Fragen nun erst begännen, denn bisher sei die Flughöhe noch recht hoch. Zudem ist die Auseinandersetzung mit den Fächern nur das erste von drei Teilprojekten. Am zweiten Teilprojekt, «Promotion und Maturität», hat man die Arbeit inzwischen ebenfalls aufgenommen. Das dritte wird dann den Lehrplänen gewidmet sein. «Und am Schluss», sagt Patrizia Rüefli, «müssen alle Teilprojekte zusammenpassen.»

Der ambitiöse Zeitplan, sagt Andreas Niklaus, erfordere ein Delegationsprinzip. «Da gilt es aufzupassen, dass die Leute in den Schulen nicht abgehängt werden. «Aus diesem Grund ist eine gute und regelmässige Kommunikation von Zwischenresultaten aus dem Projekt WegZH› unabdingbar», betont er. Die grösste Arbeit für die Schulen werde es aber schliesslich sein, die entsprechenden Konzepte zu erarbeiten. Wichtig ist dem SLK-Präsidenten dabei, «dass die Diskussionen, die dies auslösen wird – sei es über Lehrpläne oder über Fachschaftsrichtlinien –, intensiv geführt werden und den Schulen dafür genügend Zeit zur Verfügung steht.» Befürchtungen, die stärkere Vereinheitlichung führe zu Einschränkungen in der Lehr- und Methodenfreiheit, hält er heute schon entgegen: «Ein Lehrplan definiert nur die Ziele. Mit welchen Mitteln und welchen pädagogischen Ansätzen man sie erreichen will, wird weiterhin den Schulen und den einzelnen Lehrpersonen überlassen bleiben.» Philipp Michelus formuliert es so: «Das Rad der Gymis wird nicht völlig neu erfunden, aber sicher werden im Rahmen dieser Reform einige wichtige Weichen gestellt für die kommenden Jahre.»

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