Dank «bili» in die Welt hinaus
Schulblatt 28.06.2024
Seit 25 Jahren bieten Berufsfachschulen und Berufsmaturitätsschulen im Kanton Zürich bilingualen Unterricht an. Seit einem Jahr profitiert auch eine Schreinerklasse der Baugewerblichen Berufsschule Zürich davon.
Text: Andreas Minder Fotos: Reto Schlatter
Die Tische im Schulzimmer sind zu kleinen Lerninseln zusammengeschoben. An jeder sitzen zwei bis vier Lernende. Die jungen Leute sind im ersten Lehrjahr und bilden die erste «bili»-Schreinerklasse der Baugewerblichen Berufsschule Zürich (BBZ). Das Thema, an dem sie heute selbstständig arbeiten, ist die Holztrocknung – beziehungsweise «Drying Wood».
Fachlehrer Oliver Merz zirkuliert im Schulzimmer und bespricht mit Einzelnen die Aufgaben. Mal tut er es auf Englisch, mal auf Deutsch. «Code-Switching» wird das genannt, ein wesentliches Element des bilingualen Unterrichts, kurz «bili» genannt. «Viele denken bei ‹bili› fälschlicherweise an klassischen Englischunterricht, in dem Grammatik gepaukt wird», erzählt Merz. Er vermutet, dass dies einen grossen Teil der Skepsis erklärt, die Lernende, aber auch Lehrpersonen und Lehrbetriebe dem zweisprachigen Unterricht entgegenbringen.
Wobei die Jugendlichen relativ leicht zu überzeugen seien: «Ich habe viele Telefongespräche mit Lernenden, die sich nicht vorstellen können, was ‹bili› in der Praxis bedeutet.» Während er es ihnen erkläre, wechsle er deshalb oft die Sprache. «I switch to English to see how they react.» Praktisch alle «switchten» ohne Weiteres mit. «Dann ist für mich schon klar, dass sie ready sind. Sie sind motiviert und haben keine Hemmungen, zu sprechen. Darauf kommt es an.» Die Einführung in ein neues Thema macht der Fachlehrer immer auf Deutsch, in den anschliessenden Vertiefungsphasen gewinnt das Englische an Gewicht, wobei die Lernenden unterschiedlich stark mitziehen. Während die einen fast immer Englisch sprächen, getrauten andere sich das nur unter vier Augen.
Im Kanton Zürich wird zwischen drei Profilen unterschieden: «basic», «standard» und «advanced». Sie unterscheiden sich in der Anzahl «bili»-Lektionen. Als solche gelten jene Unterrichtsstunden, in denen im Schnitt mehr als 50 Prozent in Englisch gearbeitet wird.
Für Lernende von «standard»- und «advanced»-Klassen gibt es an vielen Schulen die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis auch das Qualifikationsverfahren zweisprachig abzulegen. Die Lernenden der Schreinerklasse der BBZ werden ihren Abschluss – trotz «standard»-Profil – alle auf Deutsch machen.
Auch das Qualifikationsverfahren bereits zweisprachig durchzuführen, wäre organisatorisch ein rechter «Hosenlupf» gewesen, wie Merz sagt. «Vielleicht später einmal.» Schon so musste Oliver Merz einigen Aufwand betreiben, um überhaupt genügend Lernende für die erste «bili»-Klasse zu gewinnen. Er telefonierte jeden einzelnen Lehrbetrieb ab, spannte den Schreinerverband ein und drehte einen kurzen Werbeclip. «So haben wir ‹häb-chläb› genug Lernende zusammengebracht.»
«bili» soll ein Selbstläufer werden
Elias Birchmeier ist Beauftragter Bilingualer Unterricht im Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Zürich. Sein Ziel ist es, dass «bili» in absehbarer Zukunft zum Selbstläufer avanciert. Weshalb dies heute noch nicht der Fall ist, erklärt er so: «Es ist ein freiwilliges Angebot, das für Lehrpersonen, Lernende und Schulen mit Zusatzaufwand verbunden ist», sagt er. Es sei deshalb noch immer eher ein«Nischenprodukt», das pro Schuljahr von 2000 bis 2500 Lernenden genutzt werde. Dies entspricht etwa fünf Prozent aller Lernenden.
Der Kanton sei jedoch stark daran interessiert, dass noch mehr Lernende von zweisprachigem Unterricht profitieren könnten, da dessen Vorteile bereits mehrfach wissenschaftlich aufgezeigt worden seien. Zu diesem Zweck sei unter anderem die Stelle des Beauftragten für bilingualen Unterricht geschaffen worden, der die Schulen bei der Einführung und der Weiterentwicklung von«bili»-Angeboten unterstützt und begleitet.
Dass die neue «bili»-Schreinerklassean der BBZ zustande gekommen ist, freut Birchmeier. Umso mehr, als es nicht beider einen bleiben wird: Die Klasse des nächsten Jahrgangs stehe bereits, erzählt Oliver Merz. Und diesmal hatte er die Lernenden viel rascher zusammen. Der Hauptgrund: Statt die Lehrmeister schrieb er die Lernenden an. «Wir haben die Klasse innert vier Tagen gefüllt – und führen eine Warteliste.»
Liv Wolfermann, die in der Schreinerklasse für den allgemeinbildenden Unterricht (ABU) zuständig ist, überrascht das nicht. «Für heutige Jugendliche ist es ganz natürlich, Englisch zu sprechen. Da gibt es schon einen grossen Unterschied zwischen den Generationen.» Sie geht davon aus, dass das Interesse der Lernenden und auch ihrer Eltern vorhanden wäre, wenn sie denn von «bili» wüssten. Volksschulen, Berufsberatungenund Betriebe müssten ihrer Meinung nach vermehrt informiert werden, damit sie ihrerseits besser informieren könnten. So könnten auch falsche Vorstellungen korrigiert werden.
Liv Wolfermann glaubt, dass auch ihre Kolleginnen und Kollegen die Schwellenangst abbauen könnten, wenn sie wüssten, dass «bili» nicht mit klassischem Sprachunterricht zu vergleichen sei.
Auch für sie selbst sei das wichtig gewesen. Fremdsprachen, sagt sie, seien nicht ihre Stärke. Aus zwei Gründen habe sie sich dennoch für «bili» entschieden: weil das Projekt sie herausfordere und weil es eine Chance sei, miteinander zu lernen. «Die Lernenden können sehen, dass auch ich mal um Worte ringe.» Diese lebendige Lernatmosphäre gefalle ihr. «Sie gibt mehr Spielraum für Kreativität und Peer-Feedback und fördert die Schüleraktivierung.»
Booster für die Zusammenarbeit
Um mit «bili»-Klassen arbeiten zu können, müssen Lehrpersonen eine methodisch-didaktische Zusatzausbildung für zweisprachigen Unterricht absolvieren. Ein entsprechendes Angebot gibt es unter anderem an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Je nach Stand der Englischkenntnisse kommen noch Sprachkurse dazu.
Für den allgemeinbildenden Unterricht wird Niveau C1 gemäss Europäischem Sprachenportfolio verlangt, für Berufskundeunterricht B2. Dazu kommt ein höherer Vorbereitungsaufwand, vor allem in den berufskundlichen Fächern.
Während es in der Allgemeinbildung Lehrmittel auf Englisch gibt, muss Fachlehrer Oliver Merz vieles selber entwickeln, etwa die Arbeitsblätter, die er in den Vertiefungsphasen einsetzt. Aufwendig sei namentlich die Suche nach den Fachbegriffen. «Aber das macht meinen Arbeitsalltag auch megaspannend.» Für Liv Wolfermann spricht auch die engere Zusammenarbeit zwischen ABU- und Fachkundelehrpersonen für «bili». «Das wird ja immer wieder gewünscht, aber in der Praxis nicht wirklich umgesetzt. ‹bili› ist ein Booster für die fachübergreifende Zusammenarbeit.»
Ab dem kommenden Schuljahr wird diese Zusammenarbeit personell noch einmal erweitert. Neu kommt auch die Sportlehrperson ins «bili»-Team, womit den angehenden Schreinerinnen und Schreinern der gesamte Berufsschulunterricht zweisprachig angeboten werden kann. Dies dürfte durchaus im Sinne der Lernenden sein. Fragt man sie, was sie nach fast einem Jahr von «bili» halten, fallen die Antworten durchs Band positiv aus.
Ghislain Bär etwa findet den Unterricht entspannt. «Es ist eine gute Mischung aus Englisch und Deutsch.» Den Mehraufwand hält er für überschaubar. Mathias Hercigonja, der in Zürich Affoltern die Lehre macht, findet es gut, dass er nicht unnötiges Englisch lernen muss, sondern jene Begriffe, die man im Beruf tatsächlich anwenden könne – vielleicht später auch international: «Ich würde gern mal ausprobieren, wie es ist, im Ausland zu arbeiten.» Auch Sofie Bigler, die «megagern» Englisch spricht, hofft, dass sie ihrem Beruf dank «bili» dereinst auch jenseits der Landesgrenzen nachgehen kann. Wobei ihr die erweiterten Sprachkenntnisse jetzt schon zugutekommen. Im Kleinbetrieb, in dem sie arbeitet, spricht ausser ihr niemand gut Englisch. «Wenn wir bei Kunden sind, die nicht Deutsch können, holt der Chef fast immer mich.»
Fremdsprachenlücke schliessen
Gemäss einer Studie der Universität Genf lohnt sich Mehrsprachigkeit auch finanziell. Wer eine zweite Landessprache und Englisch beherrscht, verdient durchschnittlich 20 Prozent mehr als jemand, der nur eine Sprache spricht. Vor diesem Hintergrund wird die Tatsache, dass nur etwa die Hälfte der Berufslernenden ohne Berufsmaturität in den Genuss von Fremdsprachenunterricht kommt, immer wieder bemängelt.
«bili» wurde unter anderem lanciert, um diese sogenannte «Fremdsprachenlücke» zwischen Volksschule und Arbeitswelt zu schliessen. Damit seine Lernenden nicht nur im Klassenzimmer an dieser Lücke arbeiten können, hat Oliver Merz in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Mobilität der BBZ eine Kooperation mit einer englischen Schule aufgegleist. Bald werden einige Lernende im dritten Ausbildungsjahr ein Praktikum am Shrewsbury College südlich von Liverpool absolvieren. Während dreier Wochen werden sie in der dortigen Werkstatt eine sogenannte viertelgewendelte Treppe bauen, Betriebs- und Baustellenbesichtigungen machen und bei einer Gastfamilie wohnen. Dieser Pilot stehe im Zeichen der Talentförderung, erklärt Merz.
Für «bili»-Lernende hingegen solle in Zukunft ein Aufenthalt in England im Laufe des sechsten Semesters zur Norm werden. Bald werde er sie über dieses Projekt informieren. «Dann werden die aktuellen fünf Plätze nicht reichen.» Er hofft, dass er genügend Praktikumsplätze sichern kann, bis der erste Jahrgang so weit ist. «Ich möchte, dass die jungen Berufsleute in die Welt hinausgehen, um zu erfahren, wie es dort ist», antwortet Oliver Merz auf die Frage, warum er sich für «bili» derart ins Zeug legt. Zu sehen, wie man anderswo arbeite, bringe viel. Man lerne Neues und werde offener. «Dabei helfen Sprachkenntnisse, und Englisch bietet sich besonders an.»
Vom Pilotprojekt zum regulären Angebot
«bili» startete 1999 als kleines, von Berufsfachschullehrpersonen initiiertes Pilotprojekt. Im September 2006 beschloss die Bildungsdirektion, dass das Projekt bis 2011 weitergeführt werden könne. 2010 wurde es durch die Universität Freiburg evaluiert. Damals gab es knapp 1200 «bili»-Lernende. Es stellte sich heraus, dass sie nicht nur im sprachlichen Bereich besser abschnitten als die Kontrollklassen, sondern auch risikobereiter und flexibler waren. 2011 beschloss der Regierungsrat, eine vierjährige Aufbauphase zu finanzieren. 2015 wurde «bili» als reguläres Angebot an den Berufsfachschulen etabliert. Im Schuljahr 2023/24 gibt es an 18 Schulen «bili»-Klassen. Lernende aus über 40 Berufen kommen in den Genuss von zweisprachigem Unterricht. Sie werden von mehr als 120 Lehrpersonen bilingual unterrichtet. Am besten läuft «bili» in Berufen mit vielen Lernenden wie den Gesundheitsberufen, den sozialen Berufen oder den IT-Berufen. 11 Schulen bieten auch ein «bili»-Qualifikationsverfahren an. [ami]
www.zh.ch/bili