Das duale System greifbar machen
Schulblatt 08.12.2023
Die regionalen Berufsbildungsforen im Kanton Zürich leisten einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Berufsbildung und zur Vernetzung der verschiedenen Akteure. Das Forum der Stadt Zürich beispielsweise unterstützte die Durchführung des ersten «Tags der Nachwuchsförderung» – ein Pilotprojekt mit Nachahmungspotenzial.
Text: Walter Aeschimann Fotos: Stephan Rappo
«Motoren interessieren mich», sagt Kerim.«Ich finde es gut, dass wir etwas ausprobieren können», meint Sophia. «Man lernt einen Beruf kennen und sieht, wie die Leute arbeiten», sagt Neel. Die drei gehören zu einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern der Sekundarschule Lachenzelg aus Zürich Höngg, die bei MAN Energy Solutions Schweiz AG, einem Unternehmen der Maschinenindustrie, am Escher-Wyss-Platz zu Besuch ist. Es riecht nach Metall. An scheinbar überdimensionierten Einzelteilen von Grossmotoren vorbei läuft die Gruppe durch die riesige Fertigungshalle, bis sie innehält. Am letzten Posten dürfen alle ein Motiv auf eine Glasflasche prägen, mit der Technik der Sandstrahlung. Die Jugendlichen, mit passender Schutzausrüstung eingekleidet, machen sich konzentriert und motiviert an die Arbeit.
Der heutige Anlass ist ein Pilotprojekt, an dem sieben 2. Klassen der Sekundarschule Höngg teilnehmen. Das Projekt heisst «Tag der Nachwuchsförderung» und wurde vom Verein «Made in Zürich Initiative» zusammen mit dem Berufsbildungsforum Zürich organisiert. Die Idee sei es, den Jugendlichen «einen coolen Einblick in verschiedene Firmen» zu gewähren, wie es Klassenlehrer Manuel Wyder formuliert. «Sonst sehen sie die Firmen immer nur von aussen.» Nina Schaller, Geschäftsführerin des Vereins, will möglichst viele Jugendliche dafür begeistern, später eine Lehre zu absolvieren. «Dafür müssen wir das duale System greifbar machen. Mit diesem Tag sollen die Jugendlichen einen anderen Zugang zum Handwerk erhalten.»
Das Pilotprojekt ist eine Erweiterung des «Tags der urbanen Produktion», der Ende September 2023 in der Stadt Zürich zum vierten Mal stattgefunden hat und ein Schaufenster für Betriebe ist. Diese öffnen ihre Türen und gewähren Einblicke in den Berufsalltag. Auch dieser Tag wird vom Verein «Made in Zürich Initiative» organisiert: «Wir wollen den städtischen Werkplatz zeigen und sichtbar machen, wie wertvoll die urbane Produktion ist», erklärt Nina Schaller. Weil aber vor allem Erwachsene in den Ateliers schnuppern gehen, ist die Idee entstanden, den Jugendlichen mit dem Tag der Nachwuchsförderung eine eigene Plattform anzubieten.
Es braucht mehr Lehrstellen
Das Berufsbildungsforum der Stadt Zürich hat beim Mittelschul- und Berufsbildungsamt(MBA) zusätzliche Gelder beantragt und so das Pilotprojekt mit einem finanziellen Beitrag unterstützt. Im Kanton Zürich gibt es neun regionale Berufsbildungsforen, die sich für die duale Berufsbildung einsetzen, indem sie unter anderem die Schulabgänger in der Berufswahl und die Betriebe in der Ausbildung fördern.
Die Bildungsdirektion hat im Juli 2021 zusätzliche finanzielle Mittel für die Berufsbildungsforen gesprochen. Denn Nachwuchsförderung ist ein zentrales Thema. «Die Zahl der Lernenden wird bis 2030 um rund einen Fünftel zunehmen. Das Angebot an Lehrstellen muss entsprechend wachsen, wenn wir auch in zehn Jahren noch genügend Lehrstellen zur Verfügung haben wollen», sagt Marisa Ghirardi, Projektleiterin Berufsbildungim MBA.
Die Berufsbildungsforen leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Sie sind als eigenständige Vereine organisiert und vernetzen regionale Betriebe mit verschiedenen Adressaten wie etwa momentane und zukünftige Lernende, Eltern oder Lehrpersonen der Volks- und Berufsfachschulen. Sie organisieren etwa regionale Lehrstellenmärkte, Berufsinformationstage oder Informationsveranstaltungen und verantworten weitere regionale Initiativen. Das MBA finanziert die Bemühungen der Foren im Rahmen eines Leistungsauftrags.
Am Tag der Nachwuchsförderung treffen einige Schülerinnen und Schülerzum ersten Mal auf Lernende im Berufsalltag. Zu Letzteren gehört Lara Ellerkamp, sie ist Polymechanikerin im vierten Lehrjahr bei MAN Energy und leitet die Jugendlichen an. «Ich finde es gut, dass ich den Schülern meinen Beruf vor Ort zeigen kann. Sie können selbst etwas arbeiten und erhalten einen kurzen Einblick in mein Berufsumfeld», sagt sie. Ihre Kollegin Michelle Graf zeichnete schon immer «megagern» und interessiert sich für alles Technische. «Als Hobby schraube ich auch an Autos herum.» Sie lernt Konstrukteurin, ebenfalls im vierten Lehrjahr. Auch sie hat einen guten Draht zu den Jugendlichen aus Höngg und möchte ausserdem «andere junge Frauen für technische Berufe begeistern». Der Anteil der Frauen sei immer noch gering, steige aber stetig, sagt sie. Sie fühle sich in ihrer Umgebung voll akzeptiert und unterstützt.
Berufsbildungsforen fördern
Der Tag der Nachwuchsförderung zeigt beispielhaft, wie Berufsbildungsforen künftig aktiver werden und ihre Tätigkeiten ausweiten können. Denn die Foren wurden durch die Corona-Zeit ausgebremst und waren in den vergangenen Jahren nicht überall gleichermassen wirkungsvoll. Das mag auch daran liegen, dass sie oft ehrenamtlich tätig sind und vom Engagement Einzelner leben.
Der Regierungsrat hat das MBA deshalb ermächtigt, die Vereine über die Unterstützung der vergangenen Jahre hinaus zufördern. «Wir wollen, dass die Foren eine grössere regionale Wirkung bei den Betrieben und den abgebenden Schulen erzielen», erklärt Marisa Ghirardi. Sie leitet seit Anfang Jahr das Teilprojekt «Berufsbildungsforen stärken». Der Regierungsrat hat dafür über vier Jahre verteilt einen zusätzlichen Kredit von 1,8 Millionen Franken gesprochen. Das MBA unterstützt mit diesem Geld entsprechende Projekte der Foren wie beispielsweise den «Tag der Nachwuchsförderung» des Berufsbildungsforums Zürich. Dessen Geschäftsführerin Gabriela Petermann hat diesen Tag mitgestaltet und sagt: «Seit vielen Jahren bemühen sich Branchenverbände, dem stetigen Rückgang von Nachwuchs entgegenzuwirken, das ist eine schwierige Sisyphusarbeit. Eine Aktion wie der ‹Tag der Nachwuchsförderung› kann unmittelbar bei den Schülerinnen und Schülern ansetzen und sie für eine Berufsausbildung motivieren.» Ein anderes Problem sieht sie darin, dass viele der zugewanderten Eltern das duale Bildungssystem der Schweiz nicht kennen würden und das Gymnasium als einzigen Weg für ihre Kinder im Blick hätten. «Dies sind alles sehr aktuelle Themen, die von den Berufsbildungsforen bearbeitet werden.»
Im laufenden Jahr wurden auch Aktivitäten anderer Foren im Kanton gefördert. Das Berufsbildungsforum Dietikon hat am «Schlierefäscht» eine Berufs- und Fachkräftemesse organisiert. In Meilen haben Gewerbetreibende eine Reihe von Anlässen durchgeführt. Dort diskutierten sie mit Jugendlichen, Eltern oder Lehrpersonen darüber, wie sich die Berufswelt entwickelt und welches aktuell und in Zukunft die Erwartungen aller Beteiligten sind. Vorstellbar sind laut Marisa Ghirardi auch Gelder für Strukturanpassungen der Vereine oder für neue und zeitgemässe Kommunikationsmassnahmen. Die Projektleiterin organisiert überdies Workshops, in denen sie die künftige Ausrichtung thematisiert oder mit den Präsidentinnen und Präsidenten der Foren darüber nachdenkt, wie die Foren untereinander noch stärker und effizienter vernetzt werden könnten. «Aktuell haben wir die Idee, ein Standkonzept zu entwerfen, das für alle Foren einsetzbar sein wird. Diesen Stand könnten die Foren für Anlässe mieten und beispielsweise mit ihren spezifischen Logos versehen.» Denn es komme leider vor, dass an Fachkräftemessen die Berufsbildungsforen schlecht sichtbar seien.
Berufswünsche sind noch vage
Nächster Schauplatz am Tag der Nachwuchsförderung ist das «Noerd» in Oerlikon – ein Gewerbehaus, in dem sich zahlreiche «Kreative» eingemietet haben. So auch die «Freitag lab. ag», die Herstellerin der bekannten Freitag-Taschen. Die Schülerinnen und Schüler aus Höngg laufen die verschiedenen Produktionsprozesse ab: die Waschanlage, die Zuschneiderei, den Onlineshop. An einem überlangen Tisch ist die riesige Abdeckblache eines LKW ausgebreitet. Sie befindet sich noch im Rohzustand, die Jugendlichen dürfen sie nun zerlegen. Sie reissen lustvoll Klebebänder weg, schneiden Riemen ab oder klauben Ösen mit einer Zange aus. «Es ist schon krass, wie viele Arbeitsschritte und wie viel Blache es für eine Tasche braucht», stellt Lara fest. «Warum ist die Freitag-Tasche so teuer?», fragt einer ihrer Kameraden.
Die Klassen sind zurück in Höngg. Der Morgen wird in verschiedenen Schritten ausgewertet. Die Schüler und Schülerinnen schreiben ihre Eindrücke stichwortartig aufs Papier und tauschen sich im Plenum aus. Der Grundtenor ist sehr positiv. Die meisten zeigen sich interessiert und würden einen derartigen Anlass gerne wiederholen. Doch obschon die Jugendlichen nun einen ersten Einblick in berufliche Tätigkeiten erhalten haben, sind ihre Berufswünsche noch wenig ausgeprägt. Einige wollen die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium versuchen, andere könnten sich vorstellen, in einem Betrieb zu arbeiten. Nur Milo sagt voller Überzeugung: «Ich will Automechaniker werden.»
Marisa Ghirardi hat eine Klasse bei der Nachbereitung besucht und fand den Austausch zwischen den Jugendlichen und der Lehrperson inspirierend, auch weil sich weiterführende Gedanken entwickelt hätten. Für sie hat sich das Pilotprojekt gelohnt. Ihr Fazit zum Tag der Nachwuchsförderung: «Ein äusserst erfolgreicher und anregender Tag.» Dem stimmt Klassenlehrer Manuel Wyder zu und wünscht sich, «dass einige Jugendliche daraus Zuversicht und Motivation für ihren eigenen Werdegang schöpfen».