Mathe im strömenden Regen

Die Kinder der Schule Töss in Richterswil lernen regelmässig ausserhalb des Klassenzimmers. Wie ein Besuch zeigt, lassen sich mit etwas Fantasie viele Fächer gut draussen unterrichten – sogar bei widrigen Wetterverhältnissen.

Text: Andrea Söldi Fotos: Marion Nitsch

Sofia bringt eine Handvoll kleiner Tannzapfen mit aus dem Gebüsch. Sorgfältig legt die Zweitklässlerin zehn davon nebeneinander auf die Punkte der laminierten Unterlage. Darunter reiht Ava zehn Steinchen aneinander und Arsema fügt Schalen von Buchennüsschen hinzu. Dann schwärmen die Mädchen nochmals aus. Nach einigem Suchen ist das ganze Blatt mit je zehn verschiedenen Materialien aus dem Wald bedeckt: Gräser, Moosfetzen, Baumrinde, Aststücke, grüne oder braune Blättchen. Hundert Sachen hat die Fünfergruppe in Zehnerreihen angeordnet. Denn seit Beginn des zweiten Schuljahrs lernt die Klasse, sich im Zahlenraum bis hundert zu orientieren.

An diesem Montagmorgen Ende August findet der Unterricht nicht im Schulzimmer statt, sondern im nahen Wald. Lehrerin Simone Fritschi geht mit ihrer Klasse in der Regel alle zwei Wochen ins Freie. Beide Unterstufen-Schulhäuser Töss in Richterswil nehmen am Projekt «Draussen lernen» teil, das die Stiftung für naturbezogene Umweltbildung Silviva angestossen hat. Von Nässe und Kühle lässt man sich dabei keinesfalls abhalten. Die Kinder scheinen sowieso kein Problem damit zu haben, dass es heute wie aus Kübeln giesst. Sie sind beinahe wasserdicht angezogen: Pelerinen mit Kapuzen, Regenhosen und Gummistiefel. Einige hüpfen lustvoll in Pfützen herum, andere tauchen ihre Arme tief in den Brunnen und verspritzen Wasser.

Schülerinnen lösen Matheaufgaben in der Waldhütte
Eine Gruppe von Schülerinnen löst zusammen Mathe-Aufgaben in der Waldhütte. Quelle: Marion Nitsch

Die Natur respektieren lernen

Im Reidholz-Wald, rund 20 Minuten zu Fuss oberhalb des Dorfes, haben die Kinder eine offene Waldhütte mit Bänken zur Verfügung, die sie vor dem Regen schützt. Die Lehrerin organisiert den Unterricht oft in Form von Postenläufen mit Themen aus den Fächern Deutsch, Mathe oder Natur, Mensch und Gesellschaft. Einmal gab es zum Beispiel einen Lesespaziergang, auf dem die Kinder anhand von Bildern und Beschreibungen an Bäumen ein Lösungswort finden mussten. Ein anderes Mal bauten sie Häuschen für die beiden Zwerge Zipfeli und Zwirbeli, die sie jeweils im Wald begleiten. Und im Herbst werden sie Nestchen für die Igel einrichten, die sie aus Kastanien bastelten. «Es ist mir wichtig, dass die Kinder lernen, die Natur zu respektieren», sagt Simone Fritschi. Die ehemalige Pfadileiterin achtet darauf, dass die Schülerinnen und Schüler keinen Abfall liegen lassen oder junge Pflanzen abreissen. «Sie sollen mitbekommen, dass der Wald nicht uns gehört, sondern in erster Linie der Lebensraum von vielen Tieren und Pflanzen ist.»

Weitere Ziele des Unterrichts im Freien sind, das Gruppengefühl zu stärken und vielfältigere sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen. Dafür geht die Klasse aber nicht nur in den Wald, sondern auch mal nur auf den Pausenplatz, in ein Museum, den Tierpark oder ins Dorf. Im ersten Schuljahr schritt sie den Schulweg jedes Kindes zusammen ab. Indem alle sahen, wo ihre Kameradinnen und Kameraden wohnen, sollen gegenseitige Besuche in der Freizeit und gemeinsames Spielen erleichtert werden.

Znüni am Lagerfeuer

Unterdessen hat die Lehrerin in der Feuerstelle hinter der Waldhütte ein Feuer entfacht. Dank des mitgebrachten trockenen Holzes lodern die Flammen schon bald hoch hinauf und locken fast automatisch die Kinder an. Sie bringen ihre Rucksäcke, packen den Znüni aus und wärmen die klammen Hände. Samuel spiesst einen Cervalat auf einen Stecken und hält ihn in die Glut. Derweil wickeln Lucy und Estelle ein Stück Pizzateig um einen Ast und bald duftet es nach frisch gebackenem Brot. Weniger Glück hat Dhadon mit ihrem Marshmallow: Es fällt ins Feuer, schmilzt und verkohlt.

Ein Mädchen geht zur Lehrerin und sagt, es müsse auf die Toilette. Fritschi zeigt ihm, wie es sich hinkauern kann, worauf es mit seiner Freundin im Wald verschwindet. In den Ecken der Waldhütte entdeckt Alina diverse Spinnennetze. «Hier sollte man wieder mal putzen», findet das Mädchen. «Ich habe Angst vor Spinnen.» Die Tierchen seien doch gar nicht gefährlich, belehrt sie Till. «Spinnen sind meine Lieblingstiere.»

Nun ruft die Lehrerin die Kinderschar nochmals in die Waldhütte, wo sie die nächste Aufgabe erklärt: Auf dem Waldboden befinden sich Plastikteller mit Zehnerstäbchen und Einerwürfeln. Es gilt, diese zu zählen und die Resultate auf einem laminierten Papier einzutragen.

Umbau führte zu Idee

Das Team des Schulhauses Töss startete mit dem Projekt vor fünf Jahren, als das Schulhaus renoviert wurde – im Grunde aus der Not heraus. «Der Staub und der Lärm waren teilweise kaum zum Aushalten», erzählt Schulleiter Sacha Mannhart, «deshalb wollten wir die Räume so oft wie möglich verlassen.» Als er die Ausschreibung der Stiftung Silviva sah, die nach Pilotschulen für die Entwicklung des Unterrichts im Freien suchte, brachte er den Vorschlag ins Team ein und stiess auf offene Ohren.

Zu Beginn stellte die Projektleiterin der Stiftung den Ansatz vor und die Beteiligten erhielten das Lehrmittel «Draussen unterrichten». Ansonsten entwickelten sie die meisten Ideen und Materialien laufend selbst. «Wir haben einfach ganz unkompliziert angefangen und ausprobiert», erzählt Mannhart. Das ganze Team besuchte zudem zwei Kurse beim «Taschenmesser-Pädagogen» Felix Immler, in denen vermittelt wurde, wie Kinder mit dem Sackmesser umgehen und zum Beispiel Muster in Astrinden ritzen oder Kreisel schnitzen können. Ab und zu einen blutenden Finger gebe es schon, räumt der Schulleiter ein. Doch so würden die Kinder lernen, sicher mit dem nützlichen Instrument umzugehen.

Mit Unterstützung der Projektleiterin von Silviva verfasste das Team zudem ein kurzes Konzept, in dem Themen wie Sicherheit, Kleidung, Begleitung und Elterninformation festgehalten wurden. In der Regel sind mindestens zwei Erwachsene dabei, wenn sich die Klassen ausserhalb des Schulhausareals aufhalten. Oft werden sie von einem Zivildienstleistenden oder einer Klassenassistentin begleitet, manchmal auch von einer Fachlehrperson oder von Müttern, Vätern und Grosseltern. Wird ausnahmsweise niemand gefunden, kann der Unterricht zum Beispiel auf dem Schulhausplatz stattfinden.

Zunehmend Thema in der Ausbildung

Draussen unterrichten ist lernbar. Seit Frühling 2023 bietet die Pädagogische Hochschule Schaffhausen (PHSH) drei unterschiedliche Weiterbildungsformate für Lehrpersonen zum Thema «Draussen unterrichten» an: Draussenunterricht-Halbtageskurse mit fachdidaktischer Ausrichtung respektive Erlebnispädagogik, eine vertiefende Zusatzqualifikation «Draussen unterrichten» sowie schulinterne Weiterbildungen für Schulteams. Zudem bieten die Pädagogische Hochschule Schwyz (PHSZ) und die Pädagogische Hochschule Thurgau (PHTG) seit dem Studienjahr 2023/24 eine ins Studium integrierte Zusatzqualifikation zum «Draussen unterrichten» an. Auch an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) hält ausserschulisches Lernen in der Ausbildung vermehrt Einzug. In der fachdidaktischen Ausbildung Natur, Mensch, Gesellschaft der Primarstufe werden die entsprechenden Kompetenzen der Studierenden an ausserschulischen Lernorten geschult.

Alle diese PHs gehen in ihren Aus- und Weiterbildungsmodulen «Draussen unterrichten» der Frage nach, wie der lehrplanorientierte Unterricht draussen lernwirksam gestaltet und in den Schulalltag integriert werden kann. Im Rahmen dieser Zusatzqualifikationen setzen sich angehende und bereits ausgebildete Lehrpersonen mit dem Potenzial und den Herausforderungen des Unterrichts im Freien auseinander. Ziel ist, den Unterricht im Freien in verschiedenen Fächern didaktisch gezielt einzusetzen und einen Fundus an Lehr- und Lernangeboten zur Förderung überfachlicher Kompetenzen zu erarbeiten. [lg]

Richterswil war Pionierin

Die Richterswiler Schule war eine von vier Pilotschulen des Projekts – drei davon in der Deutschschweiz und eine in der Romandie. Aufgrund ihrer Erfahrungen hat die Stiftung Silviva ein Starterkit für andere Schulen entwickelt – eine Art Anleitung, wie der Ansatz in einer ganzen Schuleinheit etabliert werden kann. Im Kanton Zürich unterrichtet zum Beispiel auch die Stadtzürcher Schule In der Ey regelmässig draussen, und die gesamte Primarschule Uster befindet sich zurzeit in der Projektentwicklung. «Draussen lernt man an der realen Welt», sagt Projektleiterin Lea Menzi. «Der Unterricht ausserhalb des Schulhauses fördert emotionale, soziale, kreative, kognitive und körperliche Fähigkeiten und leistet einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaft.» Die vom Bundesamt für Umwelt unterstützte Stiftung bietet eine grosse Auswahl an Weiterbildungen und Unterrichtsmaterialien an.

In der Schule Töss seien sämtliche Lehrpersonen der Idee gegenüber positiv eingestellt, sagt Schulleiter Sacha Mannhart. Bei Neuanstellungen wird der spezielle Ansatz von Anfang an thematisiert. Dadurch stossen immer mehr Lehrpersonen mit besonderer Affinität zum Unterricht im Freien dazu und einige wählen die Schule sogar speziell deswegen als Arbeitsort. Derzeit sind nur die Unterstufe und der Kindergarten beteiligt. Mannhart kann sich aber vorstellen, das Projekt künftig auch in der Mittelstufe einzuführen.

Eine Schülerin zählt die Zehnerstäbchen und Einerwürfel, die in Plastiktellern auf dem Waldboden liegen. Anschliessend trägt sie das Resultat auf einem laminierten Papier ein. Quelle: Marion Nitsch

Erleben draussen prägt sich ein

Von Anfang an mit dabei war Karin Betschart, die zurzeit eine dritte Klasse unterrichtet. Um die Zahl 1000 zu veranschaulichen, hat sie im Wald mit den Kindern einen Tausendfüssler mit Beinen aus Ästen gelegt. «Handelnde Erfahrungen bleiben am besten im Gedächtnis»,sagt die Lehrerin. Dies zeige sich häufig im Wochenrückblick, wenn die Kinder vor allem vom Unterricht draussen erzählen. Viele Inhalte liessen sich problemlos ins Freie verschieben, hat sie die Erfahrung gemacht: «Rechnen und Lesen geht gut, längere Texte hingegen schreiben wir weiterhin am Pult im Klassenzimmer.»

Die regelmässigen Ausflüge an die frische Luft hätten zudem die Selbstsändigkeit, die sozialen Kompetenzen und den Klassenzusammenhalt gestärkt, beobachtet Betschart, die früher ebenfalls Pfadileiterin war. Dazu trage auch die Sequenz des freien Spiels bei, das jedes Mal Teil des Lernens im Freien ist. Die Kinder würden zudem das Wetter anders wahrnehmen als zu Beginn: «Sie merken, dass man auch an trüben Tagen gut draussen sein kann.» Oft habe man nämlich bei Bewölkung das Gefühl, es regne den ganzen Tag, obwohl es viele trockene Phasen gebe.

Lernen schon auf dem Weg

Weil der Weg vom Schulhaus in den Wald relativ weit ist, versuchen Betschart und ihre Stellenpartnerin Sandra Bargetzi bereits diesen Spaziergang für das Lernen zu nutzen. Zum Beispiel erzählen sie unterwegs eine Geschichte oder bieten ein sogenanntes Klang-Bingo. Dabei müssen die Kinder die Ohren spitzen und wahrgenommene Geräusche wie etwa Hundegebell, Verkehrslärm oder Kirchenglockenläuten auf einer Karte abhaken.

Die Rückmeldungen der Eltern seien weitgehend positiv, sagt Karin Betschart. Nur selten würden Kinder bei Kälte oder Nässe abgemeldet, weil sie zum Beispiel erkältet seien. Wettergerechte Kleidung ist an den Elternabenden jedoch stets ein Thema. Die Erziehungsberechtigten werden auch vonseiten der Schulleitung über die Ziele und Vorteile des Projekts informiert.

Fötzele und Feuer löschen

Auch Lehrerin Simone Fritschi hat an diesem kühlen Regenmorgen ein paar Nachrichten von besorgten Eltern erhalten, die kaum glauben wollten, dass die Klasse bei diesem Wetter nach draussen geht. Sie konnte jedoch fast alle beruhigen. Ein Kind konnte wegen fehlender Regenkleidung nicht mitkommen und musste ausnahmsweise bei einer anderen Klasse untergebracht werden.

Nachdem im Richterswiler Wald alle Zweitklässlerinnen und Zweitklässler die Stäbchen und Würfel in den Tellern gezählt haben, geht es langsam ans Zusammenräumen. Die Lehrerin achtet genau darauf, dass kein einziges Papierfetzchen oder Plastikabfall in der Umgebung liegen bleibt, und übergiesst die letzten glühenden Äste in der Feuerstelle mit Wasser. Dann macht sich die Klasse zufrieden auf den Rückweg ins Schulhaus. Die letzte Lektion dieses Vormittags findet im Trockenen statt.

Forschungsprojekt der PH St. Gallen

«Enabling outdoor-based teaching» (EOT) ist ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PHSG). Es untersucht, welchen Mehrwert erweiterte Lernräume in der Natur in der Ausbildung von Lehrpersonen und in ihrer anschliessenden Unterrichtstätigkeit darstellen. Das Projekt erfasst seit 2019 unter der Leitung von Christina Wolf des Instituts Fachdidaktik Naturwissenschaften der PHSG den Einsatz und die Kompetenz vom Unterrichten im Freien im Studiengang Primarstufe an sieben Pädagogischen Hochschulen: Fachhochschule Nordwestschweiz, Fribourg, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau und Waadt.

Noch bis Ende 2024 untersucht das Forschungsprojekt EOT zum einen die Bereitschaft von Studierenden für den Unterricht draussen, dokumentiert Unterrichtsbeispiele aus der Praxis und fördert die Integration der Thematik «Draussen unterrichten» in der pädagogischen Ausbildung von angehenden Lehrpersonen. In den letzten drei Jahren befragten die Forschenden bislang knapp 1500 Studierende. Zum anderen stehen auch Dozentinnen und Dozenten im Mittelpunkt des Forschungsprojekts. An den sieben PHs haben bislang mehr als 240 Dozierende Fragen nach der Einbindung des Themas «Unterricht im Freien» beantwortet. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt EOT versteht sich ausserdem als Netzwerkförderung. Im Rahmen von Tagungen sollen am Thema interessierte Dozierende und Lehrpersonen zusammenfinden, um sich über Lern- und Unterrichtsformen im Freien für verschiedene Fachbereiche auszutauschen und entsprechende Lern- und Lehrinhalte weiterzuentwickeln. Ziel des EOT-Projekts ist, für mehr Inhalte und Methoden der Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Lehre zu sensibilisieren. [lg]

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