In eine völlig andere Welt eintauchen

Sicheln und hacken und dabei Wissenswertes über Pflanzen und Ökosysteme erfahren – dies erlebte eine 4. Klasse der Kantonsschule Limmattal im Bannwald oberhalb von Galgenen. Das «Schulblatt» hat sie besucht – und dabei erfahren, dass zwar die Muskeln schmerzen, die Arbeit aber als sinnvoll empfunden wird.

Text: Walter Aeschimann Fotos: Andreas Schwaiger

Lorena Guidetti trägt eine neue, robuste Arbeitshose aus der «Landi». Wie viele in der Klasse. «Für achtzehn Stutz. Schau, sie hat viele Taschen», sagt sie. In dieser Hose und festen Schuhen steht sie nun im stotzigen Gelände. Sie hat eine Sichel in der Hand und säubert den kleinen Zaun von Brombeerstauden. Der Zaun schützt eine junge Ahornpflanze vor «Wildverbiss», wie sie mir erklärt. Die anderen in der Klasse arbeiten ebenso. Sie kämpfen sich durchs Gebüsch und «sicheln» die Jungpflanzen aus, damit sie nicht überwuchert werden. «Es ist streng», sagt Nour Baz. Sie ist am Rücken von der Sonne leicht gerötet. «Eine interessante Abwechslung zum Schulalltag, und wir können auch etwas für die Umwelt tun», meint Victoria Hess. «Chillig, kein Stress, man darf auch Musik hören», findet Levi Vallini.

Die Klasse hat sich aufgeteilt. Die eine Gruppe «sichelt», die andere baut einen kleinen Weg, der das Gelände für die Waldarbeiten gut begehbar macht. Er schlängelt sich in Serpentinen schon beachtlich in die Höhe. «Bei dieser Arbeit sieht man sofort, was man gemacht hat», erklärt Leandra Zihlmann. Sie zeigt den Besuchern den «Wiedehopf», ihr Arbeitsgerät mit Beil und Hacke. Damit kann sie kleine Wurzeln hacken und die Erde pickeln. Eine weitere Schülerin sieht in dieser Arbeit «durchaus Sinn». Eine andere erhofft sich, «dass es nicht zu anstrengend wird und wir etwas Spass dabei haben». Sie alle machen diese Arbeit zum ersten Mal, «lernen aber schnell».

Sicheln und Hacken im Bannwald
Eine Woche lang arbeitet eine 4. Klasse der Kantonsschule Limmattal im Schutzwald oberhalb von Galgenen. Quelle: Andreas Schwaiger

Eine wichtige Erfahrung

Die 4. Klasse der Kantonsschule Limmattal absolviert eine intensive Arbeitswoche. Die Jugendlichen werken im «Ober Bawald», einem Waldstück oberhalb von Galgenen im Kanton Schwyz. Im Juli 2021 hat hier ein kurzer heftiger Hagelsturm dem Wald starken Schaden zugefügt. Auf einer Fläche von mehr als 17 Hektaren verletzten kirschgrosse Hagelkörner die Baumkronen der dort stehenden Weisstannen, Buchen, Bergahorne und Fichten schwer. Viele Bäume sind danach abgestorben. Nun wird das Gelände vom lokalen Forstdienst und von der Eigentümerin – der Genossame Galgenen – wieder aufgeforstet und bewirtschaftet. Die gemeinnützige Stiftung Bergwaldprojekt unterstützt sie dabei. Die Stiftung hat den Zweck, die Erhaltung, die Pflege und den Schutz des Waldes und der Kulturlandschaft im Berggebiet zu fördern, insbesondere durch die Pflege- und Sanierungsarbeiten. Sie arbeitet dafür mit Freiwilligen, die professionell angeleitet werden. Teilnehmen können Menschen bis ins hohe Alter. Forstliche Kenntnisse sind nicht nötig. Schulen beteiligen sich an den Kosten. In den Erwachsenen-Wochen ist der Einsatz kostenlos. Vor Ort lernen die Freiwilligen von Fachleuten – als Mehrwert sozusagen – das Ökosystem des Bergwaldes kennen.

An der Kantonsschule Limmattal muss jede 4. Klasse eine solche Woche absolvieren, findet das Rektorat. Raphael De Moliner ist Biologielehrer und koordiniert diese Woche schon im zweiten Jahr für die Schule. «Für die Schülerinnen und Schüler ist sie eine der wichtigsten Erfahrungen während der Maturazeit», sagt er. «Nicht alle freuen sich darauf. Aber viele kommen positiver zurück, als sie es erwartet hatten. Einige sind danach sogar motiviert, eine Lehre zu absolvieren. Andere merken, dass sie diese Arbeit später sicher nicht machen möchten. Das ist auch eine Erfahrung.» Für die Deutsch und Klassenlehrerin Livia Flury ist diese Woche auch für den Klassenzusammenhalt wichtig, «und dass die Schüler und Schülerinnen einen direkten Bezug zur Natur erleben». Beide Lehrpersonen arbeiten tatkräftig mit.

Jugendliche sind kritischer

Geleitet wird diese Arbeitswoche von Marco Guglielmetti, Projektverantwortlicher beim Bergwaldprojekt. Er ist Umweltingenieur, hat die Klasse sorgfältig in die Handhabung der Werkzeuge eingeführt und schon einiges über diesen Wald erklärt. Fichten und Föhren seien wirtschaftlich interessanter, aber sensibel, und hätten sich bei den veränderten Umweltbedingungen nicht bewährt. Deshalb versuchen die Fachleute des Bergwaldprojektes die Eigentümerin zu überzeugen, verschiedene Bäume anzupflanzen: Eichen, Ahorn, Nussbäume, Edelkastanien, Winterlinden, Eiben. «Mischwald ist stabiler », sagt Guglielmetti. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche – im Unterschied zu den Erwachsenen – gut zuhören und sehr aufnahmefähig seien. «Aber sie sind auch kritischer. Man muss ihnen genau erklären, was wir machen und warum.» Es gebe unterschiedliche Klassen. Einige seien sehr naturverbunden, andere weniger. Aber man fange immer wieder neu an. «Wir fördern mit diesen Projekten das sinnliche Erleben. Es passiert sozial etwas. Und wir betreiben ökologische Bildung», erklärt der Projektleiter. Er wird von zwei Gruppenleitern unterstützt, die Zivildienst leisten. «Es ist auch viel Motivationsarbeit dabei», sagt der «Zivi» Tobias Scherrer. «Die meisten tauchen in eine neue Welt und in einen anderen Arbeitsalltag ein. Am Schluss sind sie aber meistens zufrieden.»

Die Projektwoche dauert von Montag bis Freitag. Ein Arbeitstag sieht folgendermassen aus: 6.30 Uhr aufstehen, 7 Uhr  Frühstück, 8 Uhr Aufbruch zu den Arbeiten. Später Mittagessen, ab 17 Uhr Ende des Arbeitstags, 19 Uhr Abendessen. An einem Halbtag findet eine Exkursion statt. Rückreise nach der Reinigung von Werkzeugen und Unterkunft am Freitagnachmittag. Für das Essen ist ein Koch angestellt. Das Mittagessen wird im Wald eingenommen.

Eine Jugendliche sitzt in Handwerkerkluft im Unterholz und rodet mit einer Handsäge Himbeerstauden.
Eine Jugendliche der 4. Klasse der Kantonsschule Limmattal werkt im «Ober Bawald», einem Waldstück oberhalb von Galgenen im Kanton Schwyz. Quelle: Andreas Schwaiger

Unterkunft mit Aussicht

Die Crew im «Ober Bawald» schöpft Hirsesalat und Resten der Älplermagronen vom Abendessen des Vortags in kleine Plastikschälchen. Dazu gibt es Rüebli, Käse, Brot und ein bisschen Süsses. «Das Essen ist überraschend gut, besser, als wir dachten», sagen die Schülerinnen und Schüler. Einige legen sich nach dem Essen ins Moos, andere sitzen auf einem Baumstrunk und hören Musik oder versuchen, sich einfach zu entspannen. «Wir wussten schon ungefähr, wie das Lager wird. Wir haben ältere Semester an der Schule ausgefragt», erzählt Victoria Hess. Trotzdem konnten sie sich nicht auf alles vorbereiten. «Wir schlafen im Matratzenlager und haben nur eine Dusche für fünfzehn Mädchen», sagt Lorena Guidetti. «Immerhin hat es bis zuletzt heisses Wasser für alle gegeben.» In der Unterkunft gebe es kein Trinkwasser, «dafür eine wunderbare Aussicht auf den Zürichsee und einen Sonnenuntergang wie am Meer». Viele schwanken noch, ob sie jauchzen oder stöhnen sollen.

Einige lernen am Nachmittag, wie man mit dem Schleifstein die Klinge der Sichel wieder schärft. Andere stecken bei jungen Fichten einen farbig markierten Bambusstock ein, damit die Pflanze im wuchernden Gestrüpp später gefunden wird. Fichten brauchen keinen Hag, weil die Wildtiere sie verschmähen, hat die Klasse auch gelernt. Die Schülerinnen und Schüler können unterdessen schon einige Baumarten benennen. Eine Gruppe läuft mit dem Spraygerät in der Hand herum, um Pflanzen mit dem sogenannten «Verbiss-Schutzmittel» zu besprayen – einem Flüssigkeitsgemisch aus Blutproteinen und Wasser. Es hält Wildtiere davon ab, die jungen Triebe der Pflanzen abzubeissen. Die Gruppe, die den Serpentinenweg anlegt, ist weit gekommen. Damit sie das am Abend auch beweisen kann, dreht sie mit dem Mobiltelefon ein kleines Video.

Beruflich lieber nicht!

«Sonne, schöne Aussicht und frische Luft, was will ich mehr», sagt Nour Baz. Einen Beruf in der Natur möchte sie trotzdem nicht ergreifen. Auch ihre Kolleginnen nicht. Die Berufswünsche sind momentan Medizinerin, Rechtsanwältin oder Innenarchitektin. Erika Yasumoto ist eine Austauschschülerin aus Japan. Sie kam in die Schweiz, «um die Natur zu erleben. Aber so naturnah habe ich es doch nicht erwartet», sagt sie und lacht. «Wie lange müssen wir noch arbeiten?», fragen zwei Schülerinnen am späten Nachmittag. Sie brauchen etwas Aufmunterung. Es ist der zweite Tag, die Muskeln schmerzen und die Sonne scheint weiter unerbittlich. Sie machen öfters eine Trinkpause.

Marco Guglielmetti schaut hangaufwärts. 800 junge Pflanzen sind eingezäunt. «Es gibt noch viel zu tun», sagt er. Aber es mache nichts, wenn am Ende der Woche nicht alle Pflanzen ausgesichelt seien. Man könne im nächsten Frühling weitermachen. Die Lehrerin Livia Flury freut sich schon darauf, dass sie am Abend «einen Jass klopfen» kann. Womöglich wird sie nicht genug Partnerinnen finden, weil die Schülerinnen zu müde sind und früh ins Bett gehen werden. Nachtruhe ist um 23 Uhr. Am ersten Abend lagen alle schon im Bett und schliefen, als die Lehrerin die Lichter löschen wollte.

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