Gemeinsam unterwegs auf neuem Terrain

Wegen des Mangels an Lehrpersonen durften die Gemeinden für dieses Schuljahr Personen ohne Lehrdiplom anstellen. Davon machte man auch in Volketswil Gebrauch. Was dies für Schulen bedeutet und wie man mit der Situation kreativ umgehen kann, zeigt ein Besuch an der Schule Feldhof.

Text: Jacqueline Olivier Fotos: Hannes Heinzer

Mittwochnachmittag. Auf dem Pausenplatz der Primarschule Feldhof in Volketswil spielen ein paar Buben Fussball. Im Schulhaus selbst ist es ruhig, das Gebäude, in dem sonst rund 500 Kinder für Leben sorgen, wirkt wie ausgestorben. Doch der Schein trügt: Im 3. Stock sitzt Loredana Autiero in ihrem Klassenzimmer. Und eben war noch ein grosser Teil ihrer 4. Klasse hier, um eine Nachprüfung zu schreiben. Diese sei nötig gewesen, weil drei ihrer Schülerinnen und Schüler am Prüfungstermin krank gewesen seien, erklärt die Lehrerin. Den anderen Kindern habe sie angeboten, freiwillig an der Nachprüfung teilzunehmen, um ihre Noten zu verbessern. «Ich hatte gemerkt, dass es mit dem Stoff irgendwo noch Probleme gab, und es ist mir wichtig, dass ihn alle verstanden haben.»

Ein Klassenzimmer mit Kindern einer 4. Klasse, die an ihren Pulten sitzen. Die Lehrerin erklärt ihnen etwas.
Der Lehrberuf sei für sie schon immer eine Option gewesen, erklärt Loredana Autiero.

Loredana Autiero ist eine lebhafte junge Frau, die frisch von der Leber weg redet und gerne lacht. Dass sie ihre Arbeit als Klassenlehrerin liebt und darin aufgeht, spürt man vom ersten Moment an. Die 31-Jährige ist eine von rund 500 Personen, die zurzeit im Kanton Zürich ohne Lehrdiplom unterrichten. Dabei sei der Lehrberuf für sie schon immer eine Option gewesen, erklärt sie. «Ich kann gut mit Kindern umgehen.» Nach dem Erlangen der Matur an der Kantonsschule Oerlikon – der heutigen Kantonsschule Zürich Nord – nahm sie jedoch zuerst eine Stelle in einer Werbeagentur an, wo sie vor allem in der Kommunikation tätig war. Später begann sie ein Studium in Kunstgeschichte, kehrte während der Coronapandemie aber in die Agentur zurück.

Vikarisieren während Corona

Über einen persönlichen Kontakt erhielt sie kurz darauf die Möglichkeit, an der Primarschule Zentral in Volketswil zu vikarisieren, was aufgrund einer speziellen Corona-Regelung möglich war. Sie vertrat eine Lehrerin, die als Risiko-Person galt. Gemeinsam mit ihr führte Loredana Autiero einen hybriden Unterricht, wie sie erzählt. Sie selbst befand sich im Schulzimmer, die Lehrerin war online zugeschaltet. Sie gab den Input für die Stunde und war da, wenn ich Fragen hatte. «Ansonsten habe ich den Unterricht gestaltet.» Am Anfang sei sie zwar etwas ins kalte Wasser gesprungen, dennoch habe es sich für sie ganz natürlich angefühlt, mit den Kindern zu arbeiten. «Das Fachliche bringe ich mit», sagt sie selbstbewusst, «ich bin immer gern in die Schule gegangen und habe sieben Jahre lang Nachhilfestunden für Kinder der Mittelstufe erteilt.»

Auf ihr erstes Vikariat folgten weitere. Gleichzeitig meldete sie sich an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) an und bestand die Aufnahmeprüfung. Doch dann kam im Frühling 2022 die Anfrage der Schule Feldhof: Ein Jahr lang ohne Lehrdiplom zu unterrichten, lautete das Angebot. Im ersten Moment wollte sie ablehnen – schliesslich sollte sie im Sommer ihr Studium aufnehmen. Doch dann hat sie es sich anders überlegt. «Es war mir bewusst geworden, welche Chance sich mir damit bot, und ich wollte sie unbedingt packen.»

Nicht bis zum Sommer warten

Loredana Autiero sei ihr vom Schulleiter der Schule Zentral empfohlen worden, sagt Sandra Aebersold, Co-Schulleiterin der Schule Feldhof. Dort zeichnete sich früh ab, dass es schwierig werden würde, auf das Schuljahr 2022/23 hin alle Stellen zu besetzen. «Ich hatte schon in den Frühlingsferien schlaflose Nächte», erzählt Sandra Aebersold. Gemeinsam mit ihrem Co-Schulleiter Patric Lauruhn kam sie zum Schluss: Erst in den Sommerferien die letzten Stellen zu besetzen, kommt nicht infrage. «Wir setzten uns eine Deadline, bis wann wir uns weiter nach ausgebildeten Lehrpersonen umschauen wollten, danach sollte Plan B aktiviert werden.» Im Klartext: Ab dann sollten auch Personen ohne Lehrdiplom ins Rennen einsteigen können. Parallel dazu trugen die beiden das Thema in die Schulleiter-Konferenz, in der Ideen entwickelt wurden, wie man im Fall der Fälle vorgehen könnte. «Diese Ideen haben wir anschliessend mit unserem Team besprochen und weiterentwickelt.»
 

Eine Frau mit Brille und kurzen Haaren , die einer anderen Person zurhört.
Co-Schulleiterin Sandra Aebersold findet, die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema Lehrpersonenmangel habe sich gelohnt.

In der Schule Feldhof war man sich rasch einig: Personen ohne Lehrdiplom würden viel Unterstützung benötigen. Darum wurde ein Coaching-Modell auf die Beine gestellt und der Schulpflege vorgestellt. Finanziert wird das Coaching unter anderem mit den eingesparten Lohngeldern, denn Personen ohne Diplom verdienen lediglich 80 Prozent des Lohns einer ausgebildeten Lehrperson. «Ausserdem hat die Gemeinde tief in die Taschen gegriffen», betont Sandra Aebersold, «dafür sind wir ihr sehr dankbar.»

Alle Neulinge in einem Coaching

Es waren nicht nur zwei Personen ohne Lehrdiplom, die im Sommer 2022 im Team der Schule Feldhof starteten, es kam auch eine Berufseinsteigerin hinzu, die eben erst ihr Studium abgeschlossen hatte, ausserdem eine langjährige Fachlehrperson, die wieder als Klassenlehrperson einstieg. Sie alle sind im Coaching zusammengenommen worden. Für dieses verantwortlich sind die Mittelstufenlehrerin Yasmina Zoss und die Unterstufenlehrerin Susanne Urwyler. Dass die Schulleitung gerade sie zwei dafür anfragte, habe mehr als einen Grund, erklären sie: Beide arbeiten 100 Prozent, haben langjährige Berufserfahrung – Yasmina Zoss 8, Susanne Urwyler 20 Jahre –, verfügen über eine Zusatzausbildung als Fachbegleiterinnen und sind ausserdem als Praxislehrerinnen tätig, nehmen also Praktikantinnen und Praktikanten in ihren Klassen auf. Für die Fachbegleitung seien zu wenig Lehrpersonen an ihrer Schule ausgebildet, sagt Susanne Urwyler, es sei für sie darum naheliegend gewesen, Berufseinsteigerinnen und -einsteiger ebenfalls in das neue Coaching aufzunehmen. «Das war matchentscheidend dafür, dass wir die Begleitung aller stemmen konnten.» Einzig die dritte Person ohne Lehrdiplom, die Textiles und Technisches Gestalten (TTG) unterrichtet, ist nicht dabei, sie wird von einer Fachlehrerin für TTG unterstützt.

Je drei Lektionen können die beiden Coaching-Verantwortlichen für ihre Zusatzaufgabe einsetzen. Vor allem in den ersten Wochen sei der Mehraufwand aber gross gewesen, erzählen sie. «Die Neuen standen ab Tag 1 vor ihren Klassen», sagt Susanne Urwyler, und Yasmina Zoss ergänzt: «Am Anfang mussten wir sie mit enorm vielen Informationen eindecken und ihnen vieles erklären.» Oft sei es dabei um simple «Basics» gegangen, nimmt ihre Kollegin den Faden wieder auf und veranschaulicht mit einem Beispiel, was sie damit meint: «Die Kinder kommen nach der Pause die Treppe hochgerannt – wie schafft man es, dass sie sich alle wieder an ihren Platz setzen und im Schulzimmer Ruhe einkehrt?» Manchmal hätten sie sich auch einfach darauf beschränkt, den Berufsneulingen klare Anweisungen zu erteilen: «Macht es so!»

Cooler Groove im dritten Stock

Obschon Yasmina Zoss und Susanne Urwyler also vor allem zu Beginn gefordert waren: Die Freiheit, etwas aufzubauen, hat sie motiviert. Eine wichtige Voraussetzung für ihr Angebot war, dass alle neuen Lehrpersonen ohne Berufserfahrung in 4. Klassen eingesetzt wurden. Zum einen sind dadurch jeweils alle mit den gleichen Themen beschäftigt, sodass die beiden Coachs jeden Montagnachmittag mit der ganzen Gruppe arbeiten können. Letzte Woche beispielsweise wurde eine Englisch- Lektion aufgebaut und ein entsprechendes Repertoire für den Unterricht erarbeitet. Zum anderen findet für die 4. Klassen immer freitags ein Workshop-Tag statt. «Dadurch werden vor allem die Personen ohne Lehrdiplom inhaltlich entlastet, weil sie sich für den Freitag nur für ein Fach vorbereiten müssen», erklärt Yasmina Zoss. Neben solchen fixen Programmpunkten umfasst das Coaching aber auch viele Einzelberatungen nach Bedarf sowie Unterrichtsbesuche inklusive Vor- und Nachbesprechungen.

Nun, am Ende des Schuljahrs, sehen die beiden Verantwortlichen die Früchte ihrer Arbeit. Die Lehrpersonen der 4. Klassen bildeten inzwischen ein funktionierendes Team, in dem man sich gegenseitig unterstütze, erzählt Yasmina Zoss. «Im dritten Stock hat sich ein cooler Groove entwickelt.» Auch für sie und Susanne Urwyler war der Rückhalt im gesamten Team wichtig, viele ihrer Kolleginnen und Kollegen seien dankbar, dass sie die Aufgabe des Coachings übernommen hätten, erzählen sie. Für Susanne Urwyler ist es wichtig, dass das Erarbeitete nun gesichert wird und das Coaching weitergeführt wird. «Mit dem neuen Schuljahr werden neue Fragen kommen, erst wenn jemand einen Klassenzug abgeschlossen hat, verfügt er oder sie wirklich über das nötige Know-how als Lehrperson.»

Eine junge Lehrerin steht mit einem offenen Lehrbuch in der Hand in einem Klassenzimmer und erklärt etwas vor  erwachsenen Personen.
Neu eingestiegene Lehrpersonen haben vom Coaching und der Erfahrung von Yasmina Zoss und Susanne Urwyler profitiert.

Ruhiger als vor einem Jahr

Co-Schulleiterin Sandra Aebersold findet, das Jahr sei trotz schwieriger Ausgangslage positiv verlaufen. Es hätten zum Glück alle Faktoren zusammengespielt. Dazu gehörten auch die Eltern, von denen die meisten mit viel Verständnis und Hilfsbereitschaft reagiert hätten. Und natürlich habe das Coaching einen wesentlichen Anteil am guten Gelingen. «Wir haben gemerkt, dass ein solches Angebot für eine Schule unserer Grösse ein Vorteil ist. Für die Stellenbesetzung bietet es sogar einen gewissen Wettbewerbsvorteil.» Man werde deshalb bis zu den Sommerferien gemeinsam mit den Coaching-Verantwortlichen überlegen, wie es weitergehen könnte. Auch für das nächste Schuljahr sind jetzt, Ende Mai, noch nicht alle Stellen besetzt.«Trotzdem bin ich heute ruhiger als noch vor einem Jahr.»

Zu den Erfahrungen dieses Jahrs gehört jedoch auch, dass selbst das beste Coaching keine Garantie bietet, dass es mit allen Neubesetzungen klappt. Von der zweiten Klassenlehrperson ohne Diplom, die vergangenen Sommer angefangen hatte, habe man sich vor den Weihnachtsferien wieder getrennt, erzählt die Co-Schulleiterin. «Die Schwierigkeiten haben sich schon in den ersten Wochen bemerkbar gemacht, wir wollten der Person aber noch eine Chance geben.» Die fragliche Stelle konnte man dann kurzfristig mit einer ausgebildeten Lehrerin, die eben von einer längeren Reise zurückgekehrt war, neu besetzen. Sie ist Berufseinsteigerin und konnte sofort ins Coaching eingegliedert werden. Sandra Aebersolds Fazit aus dieser Geschichte: «Müssten wir für das kommende Schuljahr wieder Personen ohne Lehrdiplom einstellen, würde ich Kandidatinnen und Kandidaten zuerst einen Morgen lang unterrichten lassen und beobachten, wie sie mit den Kindern umgehen.» Es gebe sicher viele Leute, die gern als Lehrpersonen arbeiten würden, aber: «Viele unterschätzen, was es heisst, all die Ansprüche an den Unterricht und die Schule miteinander zu verbinden.»

Auf ihrem Weg bestätigt

Loredana Autiero hat diese Aufgabe bestens gemeistert, dies attestieren ihr sowohl die Schulleitung als auch die beiden Coaching-Verantwortlichen. Sie selbst sagt: «Am Anfang war die Informationsflut enorm, und manches musste man mir zwei-, dreimal erklären.» Auch mit der Didaktik hatte sie zunächst etwas zu kämpfen. «Ich musste vor allem weg vom Frontalunterricht, wie ich ihn als Schülerin noch erlebt hatte, hin zum individualisierten Unterricht. Das war zu Beginn sehr herausfordernd.» Dank der guten Unterstützung habe sie sich aber nie verloren gefühlt. Dann lacht sie und fügt hinzu: «Das Jahr war sehr schnell vorbei.» Es hat ihr erneut bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein. Den Start ihres berufsbegleitenden Studiums an der PHZH hat sie noch einmal verschoben und bleibt so vorerst der Schule Feldhof als Vollzeit-Klassenlehrerin erhalten. Einerseits kann sie dank dieser Lösung Geld sparen für die Studienjahre, andererseits im Moment bei ihrer Klasse bleiben. «Es hätte mir das Herz gebrochen, jetzt zu gehen.»