Grande Dame der Pädagogik
Schulblatt 10.12.2021
Wer sich für Bildung interessiert, kommt um Margrit Stamm nicht herum. Vor Kurzem wurde die Erziehungswissenschafterin mit dem Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich ausgezeichnet, für ihr grosses Engagement ebenso wie für ihre ungewöhnliche Karriere.
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Text: Jacqueline Olivier, Foto: Raffael Waldner
Für das eigene Lebenswerk geehrt zu werden, dürfte für eine emeritierte Professorin eher ungewöhnlich sein. Umso mehr hat sich Margrit Stamm gefreut, als ihr Ende Oktober der diesjährige Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich explizit unter dieser Prämisse überreicht wurde. Denn ihre Forschung hat die Erziehungswissenschafterin nie im Elfenbeinturm betrieben, wie sie selber sagt. An der Preisverleihung sei dies erwähnt worden. Und ebenso, dass sie keinen geradlinigen Bildungsweg gegangen sei. «Das hat mich auch sehr gefreut.»
Wobei wir bei einer ihrer wichtigsten Botschaften wären: Auch mit einem nicht linearen Bildungsweg kann man seine Ziele erreichen. «Heute ist der Druck gross, dass man schon in jungen Jahren möglichst viel erreicht haben muss», sagt sie und hält gleich dagegen: «Nein! Man muss einfach stets neugierig und hartnäckig bleiben.» Und ja, Margrit Stamm weiss genau, wovon sie spricht. Dass sie heute als «Grande Dame der Pädagogik» gilt, wie es in der Medienmitteilung der PH Zürich hiess, wurde ihr nicht in die Wiege gelegt. Als Tochter einer Arbeiterfamilie im Kanton Aargau stiess sie mit ihrem Wunsch, Lehrerin zu werden, zu Hause zunächst auf taube Ohren. «Bildung hatte bei uns einen eher schweren Stand.» Rückblickend meint sie, ihre Eltern hätten wohl Angst gehabt, ihre Tochter könnte sich von ihnen entfernen. Und sie schlägt gleich den Bogen zu ihrem jüngsten Forschungsprojekt. Dieses beschäftigt sich mit Kindern aus Arbeiterfamilien, die es ins Gymnasium geschafft haben. «Obwohl sich die Zeiten geändert haben, gibt es immer noch viele Eltern, die gegenüber einer höheren Bildung skeptisch sind, und junge Menschen, die es mit ihren Ambitionen in der Familie schwer haben.»
Ihr Traum wurde schliesslich doch Wirklichkeit: Sie absolvierte das Lehrerseminar in Aarau, unterrichtete sechs Jahre lang als Primarlehrerin, heiratete einen jungen Mann aus einer bildungsnahen Familie, wurde Mutter. Und legte eine achtjährige Familienpause ein. Das sei für sie nicht nur einfach gewesen. «Ich verspürte immer den Drang nach mehr, wusste aber nicht, was aus mir noch werden sollte.» Für ihre Kinder sei es sicher von Vorteil gewesen, dass sie in den ersten Jahren zu Hause war, meint sie. «Mein Mann und ich hatten keinen Stress, beide gleichzeitig unsere Karrieren vorantreiben zu müssen.» Noch ein Thema, das sie heute beschäftigt. «Als Paar müsste man eine Lebensplanung vornehmen und die eigenen Karriereschritte abwechselnd angehen, sodass sich immer ein Elternteil zugunsten der Familie etwas zurücknehmen könnte.» Wenn immer beide alles gleichzeitig erreichen wollten, nützten die besten Kitas nichts. Den Stress der Eltern zu spüren, sei für Kinder belastender, als wenn Mama und Papa wenig zu Hause seien.
Mit über 30 an die Uni
Margrit Stamm hatte ihre eigene Karriere nicht geplant, jedenfalls nicht so, wie sie schliesslich verlief. Sie habe das Glück gehabt, immer wieder auf Menschen getroffen zu sein, die ihr den Rücken gestärkt hätten. Allen voran ihr Mann, Arzt mit eigener Praxis. Als sie mit über 30 beschloss, ein Studium in Angriff zu nehmen, habe er sie «uneingeschränkt unterstützt». Dies sei damals, in den 1980er-Jahren, nicht selbstverständlich gewesen. «Die Frau gehörte zur Familie oder bestenfalls in die Praxis ihres Mannes. Ich war immer nur die Frau Doktor.» An der Universität Zürich sei sie jedoch gut aufgenommen worden. «Für mich war es eine wunderschöne Zeit. Ich war wie ein Schwamm, habe alles aufgesogen.» Dabei hatte sie eigentlich vorgehabt, am C.G.-Jung-Institut eine Ausbildung in Kinderpsychologie zu absolvieren. Doch nach dem Assessment, auf das sie sich lange vorbereitet hatte, teilte man ihr mit, sie sei dafür noch nicht reif genug. In jenem Moment sei für sie eine Welt zusammengebrochen. Der Rat, stattdessen doch an der Uni zu studieren, öffnete ihr aber schliesslich die entscheidende Tür. «Ich selbst hätte mir dies nicht zugetraut.»
Ein Jahr lang studierte sie Psychologie, anschliessend Erziehungswissenschaften. «Damit habe ich meine Berufung gefunden.» Ihre Dissertation schrieb sie über Hochbegabungsförderung an Schweizer Volksschulen, damals noch ein Tabuthema. «In den Kantonen stiess ich mit meinen Recherchen teilweise auf Widerstand. Erst als ich fragte, was man mit unterforderten Kindern machte, bekam ich Antworten.» Unterforderte Kinder – heute ein weiteres Schlüsselthema ihrer Forschung.
Tanzen als Ausgleich
Nach mehreren Jahren, in denen sie als Dozentin an verschiedenen Hochschulen unterrichtete, war es der bekannte Pädagoge und Professor Fritz Oser, der sie an die Universität Freiburg einlud. «Er wurde mein Mentor und setzte mir in den Kopf, ich sollte doch habilitieren.» Was sie 2004, mit über 50, tat. Ein grosser Schritt für sie, wie sie sagt. 2011 gründete sie das Zentrum für frühkindliche Bildung, ein Jahr später wurde sie emeritiert – vorzeitig und auf eigenen Wunsch. Die zeitliche Belastung war zu hoch geworden. Seither mache sie nur noch das, was sie gern mache. «Ich habe den schönsten Beruf der Welt.» Und das heisst für sie, an dem von ihr gegründeten und geleiteten Forschungsinstitut Swiss Education ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachzugehen, in der sie auch mit 71 noch immer völlig aufgeht.
Was ist es, was sie antreibt? «Die Abweichung von der Norm interessiert mich.» Auch der Begriff «Chancengerechtigkeit» fällt im Gespräch öfter. Diese funktioniere nach wie vor nicht. Mehr begabten Kindern aus Arbeiter- und Migrantenfamilien den Weg ans Gymnasium zu ebnen, ist für Margrit Stamm eine Herzensangelegenheit. Natürlich könne man heute dank des durchlässigen Bildungssystems auch später noch durchstarten. «Aber das darf keine Ausrede sein.» Auf der anderen Seite liessen heute manch gut situierte Eltern nicht locker, bis sie für ihr Kind die Diagnose Hochbegabung erhielten. «Sie ist zu einem Statussymbol geworden.» Entscheiden über eine akademische Ausbildung sollten aber ausschliesslich Neigungen und intellektuelle Fähigkeiten, lautet ihr unumstössliches Credo.
Sie selbst achtet mittlerweile mehr auf ihre Work-Life-Balance, auf die sie stolz ist. «Das jetzt sind meine besten Jahre», erklärt sie. Im Element fühlt sie sich beispielsweise beim Tanzen, sei es beim Gesellschaftstanz mit ihrem Mann, sei es beim Ballett, mit dem sie vor fünf Jahren angefangen hat. Natürlich mache sie keinen Spitzentanz, «aber das Training ist wunderbar, man lernt den eigenen Körper kennen. Und es ist eine gesundheitliche Altersvorsorge.»