Wandel im Zürcher Parteiensystem

Die Panaschierstatistik wird nach jeder Wahl mit grosser Spannung erwartet, weil sie zeigt, wie attraktiv die Kandidaturen über die Parteigrenzen hinaus waren und wer so den begehrten Titel der Panaschierkönigin oder -königs tragen darf. Doch ist sie auch aus einem anderen Grund interessant: Sie zeigt nämlich, wie die Parteiwählerschaften ideologisch positioniert sind – und ob und wenn ja, wie sich das in den letzten zwanzig Jahren verändert hat.

Die Wahl der 35-köpfigen Zürcher Delegation in den Nationalrat ist eine Proporzwahl. In erster Linie werden Parteien gewählt, sie ist aber auch eine Personenwahl. Denn die Kandidaturen auf den Wahlzetteln können gestrichen, kumuliert, d.h. zweimal aufgeschrieben und von den Listen anderer Parteien übertragen also panaschiert werden: 2019 haben rund 44% der Wählerinnen und Wähler von diesen Veränderungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht. Das Panaschieren ist dabei speziell, weil nicht nur die aufgeschriebene Kandidatur eine Stimme erhält, sondern auch die Liste, auf der sie steht: Wer panaschiert, verleiht so auch seinen Parteisympathien Ausdruck.

Die Panaschierstatistik zeigt so die Stimmenflüsse zwischen den Parteien. Sie entsteht als Nebenprodukt beim Stimmenzählen und ermöglicht deshalb auch langfristige Analysen. Die Grafik zeigt, wie oft Fremdkandidaturen aus den drei grossen politischen Lagern auf den Wahlzetteln der Spaltenparteien hinzupanaschiert wurden. Dargestellt sind dabei Anteile am Total der abfliessenden Panaschierstimmen und deren Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren.

Die Entwicklung der Panaschiersympathien für die politischen Lager

Nationalratswahlen 1999 bis 2019, in % der Panaschierstimmen der Herkunftspartei

Grafik: Die Entwicklung der Panaschiersympathien für die politischen Lager
Erläuterung: die Zielparteien der politischen Lager sind in der Legende genannt. Stimmen an andere politische Gruppierungen sind weggelassen Quelle: Statistisches Amt Kanton Zürich Bild «Grafik: Die Entwicklung der Panaschiersympathien für die politischen Lager» herunterladen

Ein Beispiel mag das erläutern: Von den Panaschierstimmen anderer Listen auf Wahlzetteln der Grünen (Spaltenpartei) gingen im Lauf der Jahre regelmässig etwa zwei Drittel an die beiden anderen Linksparteien, d.h. die AL und die SP. Abgenommen (von 12 auf 2%) hat bei ihnen hingegen der Anteil der Stimmen an die Rechtsparteien, zugenommen hat jener, der an die Mitteparteien floss. Die Lagerparteien sind alle in der Legende genannt.

Klare und unveränderte Ordnung im Parteiensystem …

Die Übersicht zeigt sehr eindrücklich: Das Panaschierverhalten positioniert die Partei-wählerschaften klar im herkömmlichen Links-Rechts-Schema. Der Anteil der Stimmen, der an das Linkslager ging, vor allem die SP und die Grünen, ist bei der AL, der Partei am linken Pol am höchsten und nimmt nach rechts stetig ab. Die SVP- und EDU-Wählerschaften am rechten Pol schreiben kaum Linkskandidaturen auf ihre Wahlzettel. Hinzu kommt: Die Reihenfolge ist – bei den Parteien, die es überhaupt schon so lange gibt – 2019 genau dieselbe wie zwanzig Jahre früher. Bezüglich der Einordnung im politischen Spektrum ist das Zürcher Parteiensystem also sehr stabil.

… aber doch auch Wandel

Verändert hat sich die ideologische Geometrie des Parteiensystems aber trotzdem. Denn der Anteil der Stimmen, die an Kandidaturen der Mitteparteien gehen, hat bei allen Parteien deutlich zugenommen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: 2007 traten die politisch in der Mitte positionierten Grünliberalen (glp) erstmals an. Ihre Kandidaturen waren bei den Wählerschaften anderer Parteien von Anfang an sehr beliebt und wurden von ihnen deshalb oft panaschiert.

Die Herzen der Wählerschaften der Linksparteien schlagen vor allem, und dies sehr konstant, für die Schwesterparteien im eigenen Lager. Deshalb ging diese Entwicklung bei ihnen auf Kosten der Stimmen an die grossen Rechtsparteien (FDP und SVP) am gegenüberliegenden politischen Pol: Relativ gesprochen sind sie dadurch etwas nach links gerückt.

Die Wählerschaften der «alten» Traditionsparteien der Mitte, der EVP und der CVP, haben sich sozusagen eingemittet: Ihre Panaschierstimmen gehen heute etwa zu gleichen Teilen an die drei Lager, weil die Kandidaturen des linken und rechten Politlagers an Attraktivität eingebüsst haben.

Bei den Parteien im rechten Politlager verlaufen die Entwicklungen hingegen unterschiedlich. Bei der FDP wurden die Mitteparteien auf Kosten der Linksparteien beliebter. Bei der SVP ist der Anteil Letzterer dagegen etwa gleichgeblieben und der Bedeutungsgewinn der Mitteparteien geht tendenziell auf Kosten der Parteien des eigenen Lagers, das heisst konkret vor allem der FDP.

Fazit

Das Zürcher Parteiensystem ist im Grossen und Ganzen erstaunlich stabil; die Wählerschaften der Parteien positionieren sich im Wesentlichen noch gleich wie vor zwanzig Jahren. Abgenommen hat aber bei den meisten Parteiwählerschaften der Anteil der Panaschierstimmen an ideologisch weit entfernte Parteien. In diesem Sinne hat sich der ideologische Horizont der Parteigänger etwas eingeschränkt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich mit der mittig positionierten glp ein für alle Parteiwählerschaften näher liegendes ideologisches Angebot im Zürcher Parteiensystem erfolgreich etabliert hat.

Ansprechperson

Dr. Peter Moser

Leitung Analysen und Studien, Politik

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