Auslandadoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau: Eltern für Kinder oder Kinder für Eltern?

2021 haben die Regierungen der Kantone Zürich und Thurgau beschlossen, die Adoptionspraxis in ihren Kantonen im Zeitraum 1973–2002 wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die Forschung soll klären, unter welchen Umständen die Adoptionen stattfanden und inwiefern es dabei zu Unregelmässigkeiten kam. Jetzt ist das Forschungsteam bestimmt, das den entsprechenden Fragen nachgehen und auch Stimmen leiblicher Mütter aus den Herkunftsländern einbeziehen wird. Es erarbeitet bis 2024 eine historisch-kritische Studie in Buchform und eine Website zum Thema «(Ausland-)Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau 1973–2002».

In der Schweiz und zahlreichen weiteren westlichen Ländern wurden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zahlreiche Kinder aus dem Ausland adoptiert. Erste Untersuchungen haben gezeigt: Oft fanden diese Adoptionen unter problematischen Umständen statt oder waren gar illegal. Vor dem Boom der Auslandadoptionen stammten die meisten Adoptivkinder aus dem Inland. Diese Adoptionen kamen teilweise nur zustande, weil auf die leiblichen Eltern – meist auf die ledige Mutter – massiver Druck ausgeübt worden war. Sowohl bei den Inland- als auch den Auslandadoptionen zeigen bisherige Untersuchungen, dass eher Kinder für Eltern gesucht wurden statt Eltern für Kinder.

Gemäss den Statistiken gab es in Bezug auf die Herkunftsländer eigentliche Konjunkturen. In den 1960er-Jahren kamen zunächst tibetische, koreanische, dann algerische und tunesische Kinder zur Adoption in die Schweiz. Die Adoptionen aus Indien liefen in den 1970er-Jahren an und pendelten sich in den 1980er Jahren zusammen mit Sri Lanka auf einem hohen Niveau ein. Zunehmend wurden auch Brasilien und Kolumbien zu wichtigen Herkunftsstaaten, ab den 1990er Jahren kamen Länder in Osteuropa dazu.

Team von drei Forscherinnen

Die geplante Studie wird von Prof. Rita Kesselring, St. Gallen, Dr. Andrea Abraham, Bern, und lic. phil. Sabine Bitter, Basel, durchgeführt. Die drei Wissenschaftlerinnen sind Spezialistinnen für die Geschichte der Adoption und verfügen über reiche Forschungserfahrung im In- und Ausland. Rita Kesselring ist Ethnologin, hat zur Apartheid in Südafrika und den globalen Verstrickungen der Schweiz als Rohstoffhandelsplatz geforscht und einige Jahre an der Universität Basel gelehrt. Ab August 2022 ist sie Associate Professor an der Universität St. Gallen. Andrea Abraham ist Ethnologin und Dozentin an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit und forscht seit vielen Jahren zum Kindes- und Familienwohl, unter anderem im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 76 Fürsorge und Zwang. Sabine Bitter ist Historikerin und Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur. Sie hat Untersuchungen zu tibetischen Kindern in der Schweiz und zu Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka durch die St. Galler Vermittlerin Alice Honegger durchgeführt. Zudem hat sie massgeblich zum Bericht der ZHAW im Auftrag des Bundesamts für Justiz über Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka in der Schweiz (2020) beigetragen.

Die drei Forscherinnen werden den rechtlichen Kontext und die Aufsichtspraxis in den Kantonen Zürich und Thurgau beleuchten und der Frage nachgehen, inwieweit und warum inländische Adoptionen im Untersuchungszeitraum durch Adoptionen von ausländischen Kindern «ersetzt» wurden.

Den Schwerpunkt seiner Untersuchungen legt das Forschungsteam auf Indien und Sri Lanka als bedeutendste Herkunftsländer von Adoptivkindern für Familien in den Kantonen Zürich und Thurgau. Dem so genannten Adoptionsdreieck wird dabei besondere Beachtung geschenkt, indem neben Adoptivkindern erstmals auch leibliche Mütter in den Herkunftsländern und Adoptiveltern in der Schweiz in die Untersuchung einbezogen werden. Die Auftraggeber versprechen sich davon eine Bereicherung der aktuellen Diskussionen, also eine erweiterte Perspektive.

«Betroffene sollen wissen, was war»

Die verschiedenen Interviewserien – mit leiblichen Müttern in Indien und in der Schweiz, mit Adoptiveltern in der Schweiz, mit Adoptierten – und die Untersuchung der relevanten schriftlichen Quellen in den Staatsarchiven Zürich und Thurgau und weiteren Archiven sollen dazu beitragen, den Erkenntnisstand zu verbessern, der für viele Kantone und bezüglich zahlreicher Herkunftsländer noch ungenügend ist. Neben der Buchpublikation ist die Erarbeitung einer Website geplant, auf der Interviews und weitere Materialien zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Arbeiten sollen bis Ende 2024 abgeschlossen sein.

Jacqueline Fehr, die zuständige Regierungsrätin im Kanton Zürich, sagt zu den bevorstehenden Forschungsarbeiten: «Heute wissen wir, dass es rund um Adoptionen noch vor wenigen Jahrzehnten zu schweren Unregelmässigkeiten gekommen ist. Wir sind es den Betroffenen und uns selbst schuldig, dieses Kapitel aufzuarbeiten. Betroffene sollen wissen, was war. Und wir als Gesellschaft müssen aus den Fehlern in der Vergangenheit lernen können.»

Die Adoptionspraxis in den Kantonen ist erst sehr lückenhaft untersucht. Dieser Befund bezieht sich auch auf die Kantone Zürich und Thurgau. Die beiden Regierungen haben deshalb beschlossen, zur Verbesserung der Forschungssituation beizutragen. Für das Projekt haben sie Mittel von insgesamt 600 000 Franken gesprochen und zur Begleitung des Vorhabens einen Lenkungsausschuss eingesetzt, in dem Adoptierte, Adoptiveltern und die beiden Kantone vertreten sind. Vertraglich ist festgelegt, dass die inhaltliche Verantwortung für die Untersuchung vollständig bei den Forscherinnen liegt.

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